Die Insel der Verdammten
Leben in den Wäldern Virginias. Als die politischen Verhältnisse in Amerika sich wieder freundlicher gestalteten und eine allgemeine Amnestie erlassen wurde, kehrte er mit der Familie in die Gegend am Alleghany-Gebirge zurück. Hier wurde ich im letzten Jahr des siebzehnten Jahrhunderts geboren. Wenngleich meine Mutter eine Polin war, habe ich nicht viele polnische Wörter behalten, dagegen lehrte mich meine Mutter Englisch lesen und schreiben. — Und nun", damit schloß ich die Erzählung meiner Familienereignisse, „nun hat es das Schicksal gewollt, daß ich in meinem sechsundzwanzigsten Lebensjahr mit der Waffe in der Hand das väterliche Tal verteidigen und mich, nachdem ich der Übermacht der Tyrannei unterlegen war, durch die Flucht aufs Meer retten mußte."
„Daß dich der Teufel hol, was seid ihr doch für ein widerspenstiges Geschlecht!" bemerkte William und schnalzte befriedigt mit der Zunge. „Immer nur Aufruhr! Der Urgroßvater ein Aufrührer, der Vater ein Aufrührer und auch der Sohn ein Aufrührer. Du bist wie geschaffen für unser Kaperschiff."
„ Um Piraterie und Räuberei zu treiben?"
„Nein, um Ruhm und Ehre zu erringen und dabei die Taschen zu füllen."
„Ich danke für solchen Ruhm."
Als ich mich in den tiefen Wäldern aufhielt, führte ich ein ungebundenes und bewegtes Leben, voll buntester Abenteuer. Wenn man mich jedoch gefragt hätte, welche Erlebnisse jener Zeit mein Gemüt am nachhaltigsten beeindruckten, so hätte ich geantwortet, daß es — obwohl ich mit zwölf Jahren meinen ersten Bären erlegte — nicht Jagdabenteuer und auch nicht die blutigen Ereignisse dieses letzten Aufstandes waren, sondern Eindrücke gänzlich anderer Natur: ein Buch, die Lektüre eines bestimmten Buches, und als ich es zu lesen begann, stockte mir der Atem; ich war wie betäubt und konnte mich nicht mehr von diesem Buch losreißen.
Schon allein der Titel dieses Buches deutete auf seinen fesselnden Inhalt hin:
Das im Jahre 1719 in London erschienene Buch war von einem gewissen Daniel Defoe verfaßt.
Welch ein Buch! Nichts hatte mich bis dahin so erschüttert wie die Abenteuer des Schiffbrüchigen auf der menschenleeren Insel. Und als ich es durchgelesen hatte, begann ich von vorn, las es noch ein zweites und drittes Mal und lernte ganze Absätze auswendig. Zuweilen hatte ich das Gefühl, ich wäre selbst auf diese tropische Insel verschlagen, züchtete Ziegen und rettete Freitag vor den Menschenfressern.
Als ich vor den Häschern der Herren floh, nahm ich nur wenige Sachen mit, doch das Buch vergaß ich nicht. Es sollte
mir in der Verbannung Gesellschaft leisten. Auf dem Schiff erzählte ich William von dem Buch, und er begeisterte sich so dafür, daß ich ihm in arbeitsfreien Stunden daraus vorlesen mußte, denn er selbst konnte nicht lesen.
„Kennst du vielleicht diese Insel Robinsons?" fragte ich ihn einmal.
Mit einer Gebärde der Ungewißheit kraulte sich William den Kopf.
„An der südamerikanischen Küste liegen unzählige solcher Inseln. Es gibt große und kleine, gebirgige und bewaldete, bewohnte und unbewohnte. Robinsons Insel befand sich jedoch in der Nähe des amerikanischen Festlandes, während die Kleinen Antillen sich weitab in einer Kette von Nord nach Süd hinziehen."
Wir grübelten über jedes Wort im Buch nach und bedauerten, daß Robinson darin weder den Namen seiner Insel genannt noch ihre Lage näher bezeichnet hatte.
,Wart mal, Johnny!" rief William, dem ein neuer Gedanke gekommen war. „Mir ist etwas eingefallen: Tobago. Das ist die letzte, am weitesten nach Süden vorgeschobene Insel der Kleinen Antillen. Tobago! An klaren Tagen sind von dort die Felsen Trinidads zu sehen, einer unmittelbar an der amerikanischen Küste gelegenen Insel. Vielleicht ist Tobago die Insel Robinsons? Sie ist gebirgig und im Innern mit Urwald bedeckt. Somit dürfte alles stimmen. . „Ist die Insel bewohnt?"
„Gewiß, es leben dort angeblich englische Kolonisten, doch war die Insel, wie man mir sagte, früher unbewohnt ..."
„Dann stimmt alles. So ist also sicher, daß Robinson auf Tobago gelebt hat?"
„Ach, Johnny, weiß ich's denn? Möglich ist es ja, aber nicht sicher."
Viele solcher Vermutungen stellten wir an, doch war es schwer zu sagen, wo in diesem Labyrinth von Inseln und Inselchen Robinsons Schiff zerschellt sein mochte.
Unterdessen steigerte sich von Meile zu Meile die Wachsamkeit auf unserem Schiff, denn wir hatten jetzt die Gewässer der französischen
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