Die Insel der verlorenen Kinder
Von diesem Punkt an war es ebenso sehr ihre Geschichte wie die der anderen.
«Keiner von uns wusste, wie viel von allem du gesehen hattest», erklärte Lizzy. «Ich habe mich immer gefragt, wie lange du schon zugeschaut hattest, vielleicht zu entsetzt, um dich zu rühren. Ich fragte mich, ob du wusstest, was ich getan hatte, und mich dafür verabscheutest. Peter sagte, du hättest nichts gesehen, sonst hättest du etwas unternommen. Du hättest eingegriffen oder wärest zurückgerannt, um Hilfe zu holen, irgendetwas. Aber ich war mir nie sicher. Und nach einer Weile haben sich wohl auch Peter und Tack diese Frage gestellt.»
Rhonda schüttelte den Kopf.
«Nein, Peter hatte recht. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung. Ich dachte, ihr hättet euch gestritten. Ich dachte, es wäre vielleicht etwas zwischen Tack und dir passiert und Peter wäre sauer. Ich wusste es nicht.»
Lizzy nickte, kniff einen Moment lang die Augen zusammen und fuhr mit ihrer Erzählung fort.
«Na ja, den Rest hast du selbst mitbekommen. Peter beschloss, die Bühne abzureißen, sie in einen Trümmerhaufen aus Brettern und Balken zu verwandeln, unter den keiner jemals schauen würde. Also holten wir das restliche Werkzeug aus der Werkzeugkiste und fielen wie die Verrücktenüber die Bühne her. Wir alle rissen die Bretter mit wilder Gewalt auseinander. Du und Peter, ihr wurdet verletzt, als die hintere Wand zusammenbrach, was gut war, weil es das Blut auf unseren Kleidern erklärte.»
Die Moskitos hatten sie jetzt an ihrem Platz zwischen den Farnen gefunden. Lizzy schlug auf ihre nackten Arme ein.
«Du hast mir deine Jacke um den Kopf gewickelt», erinnerte sich Rhonda. Der Gedanke, dass die Jacke da schon von Daniels Blut durchtränkt gewesen war, ließ sie schaudern.
«In jener Nacht wurde ich meine Kleider los – das heißt, ich glaube, deine Mom muss sie weggeworfen haben. Justine nahm sie weg, als ich im Bad war. Ich habe sie nie wieder gesehen.»
«Und du hast aufgehört zu reden», sagte Rhonda.
«Peter sagte, wir könnten niemandem davon erzählen. Wir könnten niemals von dem reden, was an jenem Abend im Wald passiert war. Tack und ich, wir hörten natürlich auf ihn – er war immer unser Anführer, oder? Er hat es eindringlich wiederholt – wenn wir nichts sagten, wäre es, als wäre es niemals geschehen. Keiner würde je davon erfahren. Ich hatte Angst. Angst, dass alles aus mir herausquellen würde, wenn ich nur einmal den Mund aufmachte. Worte kamen mir gefährlich vor. Kannst du das nachvollziehen?»
Rhonda nickte.
«Als Mom dann allmählich verrückt geworden ist, wurde es noch schlimmer. So ganz normal war sie ja nie, aber der Gedanke, dass Dad sie einfach sitzengelassen hat, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Und ich wusste, dasses meine Schuld war, alles meine Schuld, was auch immer Tack und Peter sagten. Irgendwann war selbst Schweigen nicht mehr sicher genug. Ich musste weg. So weit wie möglich von dem wegkommen, was mir angetan worden war; von dem, was ich selbst
getan
hatte.»
«Und wieso bist du jetzt zurückgekommen?»
Lizzy schüttelte den Kopf. «Es ist wirklich albern. Schon seit Monaten hat Peter mich gedrängt zu kommen, doch ich hatte zu große Angst. Aber dann … Erinnerst du dich an diese Sache mit dem kleinen Mädchen in Virginia?»
«Ella Starkee», sagte Rhonda.
«Genau. Ella Starkee. Ich hab sie im Fernsehen gesehen. Wie sie erzählte, dass ihr Entführer nun tot sei und der Gedanke daran sie traurig mache. Sie sagte: ‹Manchmal ist es wichtig, einem Menschen zu vergeben.› Das hat mich hierher zurückgeführt – dieser eine Satz. Er war wie das Licht am Ende eines langen, dunklen Tunnels. Nach all diesen Jahren schien mir endlich die Zeit gekommen, meinem Vater und mir selbst zu vergeben.»
«Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein. Ich komme!»
Pat hebt den Kopf und schaut in den Garten. Die Sonne blendet sie. Der Schweiß kribbelt auf der Stirn. Brust und Bauch jucken. Das kommt von der Hitze. Vielleicht können sie ja später schwimmen gehen, wenn Mama heimkommt.
Pat geht quer durch den Garten, schaut sich im Gemüsegarten um und späht hinter die Reihe mit Riesensonnenblumen und das Maisbeet. Sie schaut bei den Regentonnen nach – die sind leer – und im Werkzeugschuppen. Kein Vögelchen. Dann wendet sie sich vom Haus ab und blickt auf die Wacholderhecke, die den Garten umschließt. Dort in der Ecke blitzt etwas rot auf. Vögelchens Kleid. Pat tut aber
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