0392 - Der Rachedolch
»Sara Moon ist verschwunden!« stieß Wang Lee Chan hervor. »Ihre Zelle ist leer!«
Sid Amos sprang auf. »Was?« keuchte er überrascht. »Was sprichst du da? Verschwunden? Das ist unmöglich! Sie liegt in einem Kraftfeld gefangen, das ihre druidische Magie neutralisiert!«
»Ich weiß«, murmelte der Mongole. »Dennoch - ist sie fort. Ich habe es gerade bei einer Routinekontrolle entdeckt.«
Amos ballte die Fäuste. Er überlegte, ob das Verschwinden der gefangenen Druidin darauf zurückzuführen war, daß er länger als beabsichtigt von Caermardhin ferngeblieben war. Aber das konnte es nicht sein. Das magische Hemmfeld hatte auch ohne seine Anwesenheit Bestand.
»Wann hat die letzte Kontrolle stattgefunden? Und wer hat sie durchgeführt?«
»Vor einem Tag. Du weißt, daß wir täglich einmal nachsehen. Die Kontrolle machte Ling.«
Wortlos setzte Sid Amos sich in Bewegung. Sein Umhang wehte.
»Was hast du vor?« rief der Mongole.
»Ich werde sie befragen, ob ihr irgend etwas aufgefallen ist«, knurrte Amos und verließ den Raum. Wang Lee folgte ihm erregt.
Amos war nicht weniger erregt. Vor ein paar Stunden erst war er nach Caermardhin zurückgekehrt. Aber niemand hieß ihn herzlich willkommen. Er spürte immer wieder die Mauer der Ablehnung, die ihm von Menschen und Druiden entgegenschlug. Am neutralsten verhielt sich noch Reek Norr, der Sauroide. Aber er war nur Gast in dieser Welt, er kannte Amos nicht von früher, und er würde bald schon zurückkehren. Die anderen sahen in Amos immer noch das, was er einst gewesen war: Fürst der Finsternis und Herr der Schwarzen Familie der Dämonen.
Niemand nahm ihm ab, daß er der Hölle wirklich und endgültig den Rücken gekehrt hatte. Und Gryf, der Druide, schien in seiner Meinung gerade jetzt wieder enorm bestätigt worden zu sein. Der wiederaufgetauchte Ju-Ju-Stab hatte auf Sid Amos, den einstigen Asmodis, nicht anders reagiert als auf jeden anderen Höllendämon…
Bei seiner Rückkehr von Tendyke’s Home in Florida war Amos in eine Falle geraten, die ihm der Dämon Astardis gestellt hatte, der Amos für einen Verräter hielt. Amos war abgefangen worden und in einem magischen Gefängnis festgehalten worden, das ihm jegliche Kraft absaugte, die er einzusetzen versuchte, um sich zu befreien. Eine Kette von glücklichen Zufällen hatte dafür gesorgt, daß Professor Zamorra und der Druide Gryf auf dieses Gefängnis stießen, zunächst sogar, ohne eine Ahnung davon zu haben, wer hier gefangengehalten wurde. Schließlich gelang es ihnen, Amos zu befreien - buchstäblich im letzten Moment, ehe Astardis ihn auslöschen konnte. Astardis hatte sich einmal mehr eine blutige Nase geholt und sich zurückgezogen. Aber er war eine Macht, mit der man rechnen mußte - zumal niemand Voraussagen konnte, wann und wo er beim nächsten Mal zuschlagen würde. Und selbst wenn er zuschlug… sein Scheinkörper, den er agieren ließ, war magisch neutral und von einem normalen Menschen so gut wie nicht zu unterscheiden.
Gryf hatte den geschwächten Sid Amos nach Caermardhin zurückgebracht und war, wenn auch widerwillig, noch hier geblieben. Er tauschte Erfahrungen mit dem russischen Parapsychologen Boris Saranow und dem Sauroiden Reek Norr aus und mied die Nähe des Herrn von Caermardhin.
Der blieb vor der äußeren Tür von Su Lings privaten Räumen stehen und klopfte lautstark an. Ein verwundertes »Herein« ertönte von drinnen. Su Ling rechnete wohl zwar damit, daß allenfalls Wang Lee zu ihr kam und sie um diese Zeit störte, aber die Art des Anklopfens irritierte sie.
Amos trat ein. Wang Lee Chan blieb dicht hinter ihm. Der Mann aus der Vergangenheit, dessen kahlen Kopf eine seltsame Punkte-Tätowierung zierte, trug sein Schwert in der Rückenscheide. Obgleich er in Caermardhin unter normalen Umständen keinen Angriff zu fürchten hatte, hatte er das Schwert auf den Rücken geschnallt, als er die Flucht Sara Moons bemerkt hatte. Vielleicht hielt sie sich noch irgendwo in der unsichtbaren Burg auf und wurde zur Gefahr…?
Wang Lees Hand berührte die linke Schulter und blieb dort, in unmittelbarer Nähe des Schwertgriffs, liegen. Die Geste war eindeutig. Wenn Amos sich im Zorn an Su Ling vergriff, würde er seinen Kopf vor Wangs Füßen wiederfinden. Was seine Gefährtin anging, verstand der Mongole absolut keinen Spaß.
Er war einst aus der Vergangenheit in die Jetzt-Zeit gerissen worden und später zum Leibwächter des Fürsten der Finsternis aufgestiegen. Aber mit
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