Die Insel der Witwen
Nasen zu.
»Stellt euch nicht so an. Holt Salz und bestreut das Fell, damit es haltbar wird. Wenn ihr fertig seid, lauft zu Medje hinüber. Ich koche für alle Suppe. Sagt ihr, dass sie auch Öl für die Tranlampen und zum Einreiben gegen ihr Muskelreißen bekommt.«
Keike schnitt das Seehundsfleisch auf. Das Messer rutschte ihr aus der Hand und blieb mit der Spitze im Boden stecken. Es war nach links geneigt. Morgen durfte sie nicht mit den Kindern ans Wasser gehen, sagte das Messer. Morgen spülte das Meer vier Leichen an den Strand. Gott behüte die Mädchen vor solchem Anblick.
Keike hob das Messer auf und schnitt weiter. Wie viele Wasserleichen hatte sie schon gefunden? Sie wusste es nicht. Sie trieben mit dem Gesicht nach unten und mit herabhängenden Armen und Beinen im Wasser. Manche dümpelten einige Wochen lang im Meer. Sie hatten Totenflecke am Körper, ihre Waschhaut war abgelöst und ihre Gesichter und Körper stark gedunsen. Einige hatten Verletzungen von Schiffsschrauben und Bergehaken, oder sie waren von Krebsen, Fischen und Möwen angefressen.
Manchmal lagen Leute von der Insel im Sand. Verunglückte Berger oder Fischer, oder Frauen, die ins Wasser gegangen waren und wieder ans Ufer spülten. Aber meist schwemmten unbekannte Seeleute an. Die Gehilfen des Strandvogts verscharrten sie in den Dünen. Alle namenlosen Seeleute, die das Meer ausspuckte, lagen inmitten der Sandberge. Seit Jahrhunderten vergruben sie sie in der Inselwüste. Keike wusste nicht, wie viele Menschen unter dem Sand begraben lagen. Niemand wusste das. Hunderte, Tausende? Ertrunken, verunglückt, ermordet.
Keike blickte auf die Dünenkette, die sich längs des Strandes erstreckte. Der Wind trieb den Sand über die Hügel. Zuweilen wehte der Wind Knochen und Skelette frei. Zunächst krochen sie steif und starr vom langen Schlaf im Sand umher. Dann aber, im Schutze der Nacht, oder wenn dichter Seenebel sein Schleiertuch über die Insel legte, wurden sie immer munterer. Sie huschten mit schaurigem Geklapper über die Sandberge, gruben die anderen Toten aus und tanzten mit ihnen auf den Gipfeln der Hügel. In diesen Stunden erschallte ein grausiges Lachen und Knochenklappern von den Totenhügeln und drang in die Häuser. In diesen Stunden entzündeten die Menschen auf der Insel Kerzen und baten Gott um Vergebung ihrer Sünden.
H
Andreas Hartmann hörte klappernde Geräusche vor dem Haus. Eine Karosse war vorgefahren. Endlich. Der Bauinspektor. Er lief zur Tür. Ein hochgewachsener, schlanker Mann mit Hakennase und hohlen Wangen, die auf eine Magenkrankheit schließen ließen, kam auf ihn zu. Sein Mantel schlotterte um seinen Körper.
»Theodor Ricken, guten Tag. Herr Hartmann, nicht wahr?«
»Schön, dass Sie da sind. Ich erwarte Sie bereits mit Ungeduld. Bitte legen Sie doch ab. Wo ist denn das Mädchen? Imke!«
Das Mädchen kam gelaufen und nahm Ricken den Mantel ab.
»Meine Frau lässt sich vielmals entschuldigen. Sie hat kirchliche Verpflichtungen.« Andreas Hartmann führte Ricken in das Empfangszimmer. »Haben Sie eine gute Reise gehabt?«
»Fragen Sie nicht, es war eine Tortur. Die Wege auf dem Land sind unzumutbar. Entweder poltert man durch tiefe Schlaglöcher oder bleibt im Schlamm stecken.«
Almut hatte Pflaumenkuchen bereitgestellt, die kostbarste Tischdecke aufgelegt und das Besuchsporzellan mit den Rosé-Röschen gedeckt. In der Mitte des Tisches prangte ein prächtiger Asternstrauß mit Herbstgräsern durchsetzt.
Andreas Hartmann zeigte auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich doch. Ich kann es kaum erwarten, Ihren Bericht zu hören.«
Das Mädchen kam mit dem Kaffee. Sie füllte die Tassen, danach verließ sie das Zimmer.
»Erzählen Sie. Wie war es auf der Insel?«
»Darf ich?« Ricken zeigte auf den Kuchen.
»Aber ja, bitte.«
Ricken führte ein Stück Kuchen zum Mund. Er biss hinein, kaute. Er aß das ganze Stück auf, spülte mit einem Schluck Kaffee nach.
»Köstlich«, murmelte er, indem er die Tasse zurückstellte. Er wischte sich einen Krümel aus dem Mundwinkel, blickte den Ingenieur ernst an. »Ich will ehrlich sein, Herr Hartmann, Sie werden es nicht leicht haben. Ich möchte Sie nicht entmutigen, aber die Verhältnisse auf der Insel sind alles andere als angenehm. Man muss es mit eigenen Augen gesehen haben, sonst glaubt man nicht, was sich dort abspielt.
Es erwartet Sie ein primitives Leben mit wenig Unterstützung seitens der Insulaner. Der Bau stößt auf Widerstand. Bis auf ein
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