Die Insel der Witwen
nach dem anderen strandete. Sie brachten Teerfässer, Baumwolle, Rotwein, Hafer, Weizen, Rinderschmalz, Kaffee. Und Holz, Holz, Holz. Das seeseitige Ufer war mit Holzplanken übersät. Die ganze Insel war auf den Beinen. Auch Keike, Stine und Medje kämpften sich durch den Sturm. Sie sammelten auf, was sie tragen konnten, schoben sich durch die Dünen, zu ihrem Versteck, stemmten sich gegen die auf sie einschlagenden Böen zum Ufer zurück, um weiteres Strandgut zu holen. Tag und Nacht schafften sie Schiffsgut beiseite. Keike hatte auch die Mädchen mitgenommen. Sie mussten tragen helfen. Göntje lief auf eine Planke zu. Plötzlich schrie sie lauter als das tosende Meer. Ein Schrei, der Keike durch Mark und Bein fuhr. Sie rannte auf ihre Tochter zu. Das, was Göntje für Holz gehalten hatte, war ein abgerissenes Bein, das in einem Stiefel steckte. Keike hielt Göntje die Augen zu und riss sie beiseite. Sie verfluchte sich, dass sie die Mädchen mitgenommen hatte. Sie hätte voraussehen können, dass Leichen anspülten. Aber eines Tages mussten sie schließlich auch mit dem Anblick von Toten und Leichenteilen fertig werden. Sie waren allmählich alt genug. Dennoch schickte sie die Kinder mit Medje nach Hause. Medje dankte es ihr. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Sie war zu alt geworden für diese Strapazen.
Sechs Tage und fünf Nächte suchten sie den Strand ab. Nach und nach hatten sie alles aufgesammelt, was sie ergattern konnten.
In den nächsten Tagen zog auf der Insel eine drückende Stille ein. Man ging sich aus dem Wege. Jeder verrichtete sein Tagwerk.
Keike hatte Wasser heiß gemacht. Vor ihr türmte sich ein großer Wäscheberg. Wenigstens fror sie bei dieser Arbeit nicht. Dieses Mal nahm sie auch warmes Wasser zum Spülen, wegen der vielen Planken, die sie gefunden hatten. Sie schrubbte und spülte die Wäschestücke. Dann spannte sie in der Tenne eine Leine. Die Mädchen hängten die feuchte Wäsche auf. Göntje war blass und schweigsam. Sie sprach nicht über das Bein. Kein Wort kam aus ihr heraus. Sie musste es verkraften. Es war noch glimpflich für den Anfang. Sie hatte keine aufgequollene und zerfressene Leiche anschauen müssen.
Keike wischte die Balge aus. Die letzte Woche war hart gewesen. Fünf Schiffe und fünf Mannschaften. Die Berger waren in den ersten Tagen nicht hinausgefahren. Der Sturm wütete zu heftig. Erst am vierten Tag, als der Wind sich ein wenig ausruhte, war Knudt Nissen mit den Männern zu einer französischen Brigg hinausgerudert. Doch Wind und Strömung schlugen dem Boot entgegen. Sie kamen nicht an das Schiff heran. Sie konnten nur fünf Männer retten, die auf einem Floß lagen. Als die Seemänner das Ufer erreichten, fielen alle auf die Knie und beteten. Die Männer brachten die Franzosen in das Versammlungshaus und versorgten sie mit trockener Kleidung und heißer Suppe. Am folgenden Tag bargen sie zwei Schiffe. Eine Mannschaft wurde gerettet. Von den anderen blieben nur Leichen und Schiffstrümmer.
Keike hätte gerne ein Pferdefuhrwerk gehabt. Jeder, der einen Pferdekarren besaß, konnte Fuhrgeld verdienen beim Bergen der Schiffsladungen und zusätzlich etwas beiseiteschaffen. Nissen versuchte zwar, alles zu notieren, was auf die Wagen geladen wurde. Aber manches Fass verschwand dennoch.
Sie besaß weder Pferd noch Wagen. Und auch kein Boot. Witwen hatten, wenn es hoch kam, einen kleinen Handkarren und mussten das, was sie zum Leben brauchten, am Strand suchen.
Gestern war Nissen in ihre Häuser gekommen und hatte jeden Winkel durchwühlt. Bei Anna und Inken von gegenüber hatte er Planken gefunden. Zwei Wochen Zuchthaus bekamen sie für zwei Planken.
Sie legte den Lappen beiseite. Schon seit sechzig Jahren gaben die Nissen-Väter das Strandvogtamt an die Söhne weiter. Die Nissens waren immer anständig gewesen. Auch Knuth Nissens Vater, der Heinrich, hatte ein Auge zugedrückt und ihnen was gelassen. Aber Knudt Nissen zeigte alles an und prügelte. Schon als Junge war er ein Taugenichts. Er trieb sich auf der Insel herum, anstatt zu lernen und dem Vater zu helfen. Und er quälte Tiere. Er schleuderte Katzen in der Luft herum und ließ sie an die Wand prallen, auch Kaninchen und Vögel piesackte er. Dann fuhr er wie alle Jungen zur See. Als sein Vater starb, übernahm er die Strandvogtei, denn er war der Älteste der drei Brüder. Der Teufel soll ihn holen.
3
Andreas Hartmann lag hellwach im Bett. Er wälzte sich von einer Seite zur anderen. Seine Unruhe
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