Die Insel der Witwen
dass sie die Insel niemals verlassen konnte, auch wenn sie ihren Töchtern wünschte, dass es ihnen gelänge, von hier fortzukommen. Ich werde ihnen verbieten, Seemänner zu heiraten, dachte sie. Seemänner starben auf Walfängern, Fischerbooten, Handelsschiffen, sie wurden vermisst, erfroren oder verunglückten. Sie ertranken oder wurden ermordet. Eines Tages erwischte es jeden. Und zurück blieben die Witwen. Junge und alte Frauen. Mit einer Schar von Kindern. In ihrer Not schickten sie ihre zwölfjährigen Söhne als Schiffsjungen auf See, nur um ein paar Taler mehr zu haben. Aber meist sahen sie auch die Söhne nicht wieder.
Eine Bö. Sie schleuderte Keike zurück, ließ sie taumeln. Sie schwankte, kämpfte sich weiter voran. Gott hatte ihr die Kraft eines Bären geschenkt. Sie würde die Töchter und sich durchbringen. Sie konnte das tragen, was die jungen Kerle in ihren besten Jahren liegen lassen mussten. Zusammen mit Stine und Medje konnte sie nicht nur große Planken heben, sondern sogar schwere Fässer die Dünen hinauf rollen.
Keike presste ihr Tuch fester an Mund und Nase. Es war erst Ende September, kein Vergleich zu den Winternächten am Strand. Dennoch fröstelte sie. Sie kauerte sich zusammen, spähte aufs Wasser. Oft war sie die Erste, die eine Strandung erahnte. Sie verstand es, viele Zeichen zu deuten, um zu erkennen, wann Strandgut in Aussicht stand. Manchmal gelang es, dass sie die Ersten waren und vor den anderen sammelten, was sie schleppen konnten.
Stine und Medje kamen. Medje trug einen Fischerkorb auf dem Rücken. Für Kleinigkeiten, die an den Strand gespült wurden. Sie setzten sich. Keike wurde wärmer. Die Wolken gaben den Mond frei. Sie beobachteten das Meer, saßen und starrten auf die brodelnde See. Schweigen. Das Heulen des Windes pfiff in ihre Ohren, mischte sich mit dem Grollen und Brausen der aufgewühlten See.
Stine sprang auf. »Da! Ein Ewer. Er kämpft mit den Wellen.«
Stumm verfolgten sie die Bewegungen des Seglers. Das Schiff krängte gefährlich. Schemenhaft sahen sie Seeleute, die Ballast abwarfen. Sie versuchten alles, um nicht auf die Sände getrieben zu werden. Keike erkannte an der Lage des Ewers, dass das Schiff verloren war.
Eine riesige Welle erfasste den Schiffsrumpf. Sie hörte es bersten und krachen. Das Schiff war auseinandergebrochen. Ein eigentümliches Gefühl erfasste Keike. Sie kannte dieses Gefühl. Immer wieder überkam es sie. Bei jeder Strandung. In die Erleichterung über neues Strandgut, das sie mit ihren Töchtern überleben ließ, mischte sich der Gedanke an all die Männer, die ihr Leben lassen mussten.
Die ersten Gegenstände tanzten auf dem Wasser. Die Frauen blickten sich um. Es war niemand zu sehen. Sie liefen die Düne hinunter zum Meeresufer. Ein paar Holzplanken strandeten. Auch Fässer schwammen heran. Sie machten sich daran, die Güter so schnell wie möglich beiseitezuschaffen, holten ein paar Planken aus der Gischt. Sie brauchten immer Holz. Es gab keinen einzigen Baum auf der Insel. Keike zog an einem großen Brett, schleppte es ans Ufer. Als sie wieder ins Wasser zurückwatete, entdeckte sie einen Seemann, der sich durch die hoch gehende See zum Strand hin kämpfte. Der Mann schleppte sich immer weiter in ihre Richtung. Er kroch bis vor die Füße der Frauen. Das Wasser um ihn herum war rot gefärbt. Eine tiefe Wunde spaltete seinen Rücken. Er hob seinen Arm, seine Lippen bewegten sich stumm. Ein kurzer Blick genügte. Jede ergriff ein Stück angeschwemmtes Wrackholz. Mit vereinten Kräften schlugen sie auf den Mann ein. Schwarze Wolken schoben sich über den Mond. Sie packten den Seemann und schleppten ihn in ein Dünental. Sie zogen ihm die Stiefel aus. Die Hose war auch brauchbar. Sie gruben eine Mulde, verscharrten den Körper im Sand. Dann nahmen sie ihr Strandgut und verschwanden im nächtlichen Herzen der Insel. Schwarz war die Dunkelheit der Dünen. Ihre Fußstapfen vom Winde verweht.
H
Es war Samstagnachmittag. Andreas Hartmann saß in seinem Arbeitszimmer. Überall lagen Pläne und Papiere verstreut. Nicht nur auf den Stühlen, auch auf dem Teppich türmten sich Stapel. Seit zwei Jahren hatte er sein Büro in seinem Wohnhaus am Dammtorwall eingerichtet, im ersten Stock, neben dem Empfangszimmer, damit er arbeiten konnte, wann immer er wollte, ganz nach seinem Rhythmus und den Erfordernissen der Aufträge.
Er arbeitete fieberhaft. Tag und Nacht zeichnete und schrieb er. Almut versuchte, ihn zumindest von der
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