Die Insel der Witwen
Seesack geschultert und sich zum Hafen aufgemacht.
Keike spürte alten Zorn in sich aufsteigen. Meistens hatte er dagesessen und geschwiegen. Seinen Tee getrunken und geschwiegen. Das Haus repariert und geschwiegen. Lag in ihrem Bett und schwieg, wälzte sich auf sie und schwieg. Blieb stets in seiner eigenen Welt. Am Tag und in der Nacht. Er war ein Fisch. Fische schweigen. Sie geben keinen Laut von sich. Nicht einmal im Todeskampf. Harcks Schweigen war wie ein tiefes Moor, in das man gezogen wird. Manchmal hätte sie ihn am liebsten gerüttelt und geschrien: »Bitte sag doch was!« Aber es hätte keinen Sinn gehabt. Er konnte über seine Arbeit reden: »Ich geh jetzt das Dach ausbessern.« Oder: »Ich fange uns Kaninchen.« Oder: »Ich bessere die Netze aus.« Das war alles, was über seine Lippen kam. Oft wusste sie nicht einmal, wo er sich aufhielt und was er gerade arbeitete. Er schlich sich aus dem Haus und kam zu den Mahlzeiten wieder. Aß und schwieg. Manche Menschen schweigen im richtigen Augenblick, rücksichtsvoll, um nicht zu verletzen, um dem anderen zuzuhören. Sein Schweigen war wie eine heranziehende Gewitterfront, die sich nicht entlädt, wie eine Woge, die plötzlich stehen bleibt, der Lust beraubt, zu rollen und zu springen. Wenn Harck im Winter zu Hause wohnte, hatte sie sich einsamer gefühlt als allein mit den Kindern, lebte wie in einem dichtmaschigen Fischernetz gefangen, aus dem es kein Entrinnen gab.
Keike fröstelte. Sie legte ihre kalten Hände um den Teebecher. Vor der Fensterscheibe zitterte ein Spinnennetz. An seinen Fäden hingen Wassertröpfchen. In der Mitte klebte eine Fliege. Sie war bereits angefressen. Es fehlten ihr die Flügel und der Kopf. Keike starrte auf die Fliege. Sie presste die Lippen aufeinander. Wenn sie damals die Axt in der Hand gehabt hätte, hätte sie die Axt geworfen. Sie hätte sie geworfen.
H
Es war Sonntag. Kirchgang. Keike streifte die Strümpfe über, das Witwenkleid, setzte die Haube auf. Unter der Haube lag ihr hellblondes, zu einem Zopfkranz geflochtenes Haar verborgen. Die schwarze Haube, die ihr Haar einmauerte, ließ ihr Gesicht wie altes, aufgeweichtes Brot erscheinen.
Sie war jetzt achtundzwanzizg Jahre alt, fühlte sich wie ein abgetragenes Kleid. Sie nähte und stopfte den löchrigen Stoff, der sie war, aber es half nichts. Sie blieb schwarz. Wie getrockneter Seetang. Keike strich über ihr Kleid, als könnte sie das Schwarz abwischen. Aber es blieb an ihr haften wie eine Seepocke am Stein. Sie war nicht hell oder bunt, sie war dunkel, düster. Sie leuchtete nicht. Leuchtete niemals. Raben waren schwarz und Katzen, die Unglück brachten. Und das Schaf, das ehrlose. Auch Wolken, die ein Unwetter mit sich trugen. Keike sah an sich herunter. Sie war schwarz, wie Raben und Katzen, die Unglück brachten, wie dräuende Wolken, wie Pech, schwarz wie ein böser Traum.
Sie holte die Gesangsbücher, wickelte sie Marret und Göntje ins Tuch. Marret war sechs, Göntje vier Jahre alt, als sie ihren Vater verloren, dachte sie. Nur Marret kann sich noch an ihn erinnern. Sie selbst hatte ihren Vater nie gesehen. Sie wusste nicht, wie es war, einen Vater zu haben.
Keike küsste die Mädchen auf die Stirn. Möge der Herrgott sie schützen.
Die Kirche stand in der Inselmitte, im Krabbenbauch. Sie schlenderten der Kirche entgegen. Keike musste an ihren Traum denken. Sie hatte einen fremden Mann gesehen. Er trug feine Kleider. Gute Stiefel, graue Hosen und einen blauen Rock mit glänzenden Knöpfen. Er war auf dem Weg zum Strand. Dann kam sie mit Stine und Medje geflogen. Sie kreischten wie aufgeschreckte Vögel in der Nacht, flatterten und tanzten um ihn herum. Sie hatten Feuerkränze auf ihren Köpfen und sangen schrille Töne. Sie drehten sich immer schneller. Sie schnappte die Hand des Mannes und zog ihn in den Tanzkreis. Er musste den Reigen mittanzen. Plötzlich blieben sie stehen. Sie hielt einen Becher in der Hand und gab dem Mann zu trinken. Als er getrunken hatte, glühte er vor Verlangen. Sie lachten und führten ihn in die Heidefelder. Er gab ihnen, was sie sich wünschten und sie schenkten ihm, was er sich wünschte. Dann erloschen ihre Feuerkränze und sie zerstoben in alle Winde. Keike lächelte. Es war ein wunderschöner Traum.
Die Mädchen liefen vor. Sie flüsterten sich etwas zu und kicherten. Das helle Lachen ihrer Töchter konnte Keike nicht aufhe itern. Sie fühlte sich sehr einsam, trotz der Kinder. Seit vier Jahren
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