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Die Insel des Dr. Moreau

Die Insel des Dr. Moreau

Titel: Die Insel des Dr. Moreau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. G. Wells
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wahrhaft öffnet, muß einsehen, daß es eine Kleinigkeit ist. Vielleicht kommt außer auf diesem kleinen Planeten, diesem Fleck kosmischen Staubes, den man längst nicht mehr sähe, ehe man den nächsten Stern erreichte - vielleicht, sage ich, kommt dies, was wir Schmerz nennen, sonst nirgends vor. Aber die Gesetze, die wir tastend suchen ... Ach, selbst auf unserer Erde, selbst unter lebenden Wesen, was ist da der Schmerz?«
    Er zog, während er sprach, ein kleines Federmesser aus der Tasche, öffnete die kleinere Klinge und rückte seinen Stuhl so, daß ich seinen Schenkel sehen konnte. Dann wählte er bedachtsam eine Stelle, stieß das Messer in sein Bein und zog es wieder heraus.
    »Ohne Zweifel haben Sie derlei schon gesehen. Es tut nicht so weh wie ein Nadelstich. Aber was zeigt es? Im Bereich des Muskels ist Schmerzempfindung nicht nötig und nicht vorhanden; sie ist nur wenig nötig in der Haut, und nur hier und dort gibt es auf dem Schenkel schmerzempfindliche Stellen. Der Schmerz ist nichts anderes als unser innerer ärztlicher Ratgeber, um uns zu warnen und anzustacheln. Nicht alles lebendige Fleisch ist schmerzempfindlich, auch nicht alle Nerven sind es, nicht einmal alle Empfindungsnerven. In den Empfindungen des Sehnervs gibt es keine Spur von Schmerz, wirklichem Schmerz. Wenn Sie den Sehnerv verwunden, sehen Sie nur Lichtblitze, genau wie eine Erkrankung des Gehörnervs nur Summen in den Ohren hervorruft. Pflanzen fühlen keinen Schmerz; die niederen Tiere - es kann sein, daß solche Tiere wie der Seestern und der Krebs keinen Schmerz empfinden. Und dann die Menschen: je intelligenter sie werden, mit um so mehr Intelligenz werden sie für ihr eigenes Wohlbefinden sorgen, und um so weniger werden sie den Stachel nötig haben, der sie vor Gefahr warnen soll. Ich habe noch von keinem nutzlosen Ding gehört, das nicht durch die Evolution früher oder später aus dem Dasein ausgemerzt worden wäre. - Sie etwa? Und der Schmerz wird nutzlos.
    Und dann bin ich ein religiöser Mensch, Prendick, wie es jeder vernünftige Mensch sein muß. Vielleicht bilde ich mir ein, mehr von den Wegen des Schöpfers dieser Welt gesehen zu haben als Sie - denn ich habe auf meine Weise mein ganzes Leben lang nach seinen Gesetzen gesucht, während Sie, wie ich höre, Schmetterlinge gesammelt haben. Und ich sage Ihnen, Schmerz und Lust haben mit Himmel und Hölle nichts zu tun. Schmerz und Lust - bah! Was ist Ihre Theologenekstase anderes als Mohammeds Huri im Dunkel? Dieser Wert, den Männer und Frauen auf Schmerz und Lust legen, Prendick, ist das Zeichen des Tiers in ihnen - das Zeichen des Tiers, von dem sie gekommen sind. Schmerz! Schmerz und Lust - sie gibt es nur, solange wir uns im Staube winden ...
    Sie sehen, ich bin mit diesen Forschungen genau den Weg gegangen, den sie mich führten. Ich stellte eine Frage, ersann eine Methode, eine Antwort zu bekommen, und stieß auf - eine neue Frage. War dies oder das möglich? Sie können sich vorstellen, was das für einen Forscher heißt, was für eine intellektuelle Leidenschaft ihn überkommt. Sie können sich jedoch nicht vorstellen, was für einen seltsamen, farblosen Genuß diese geistigen Wünsche schaffen. Das Wesen da vor Ihnen ist kein Tier mehr, kein Mitgeschöpf, sondern ein Problem. Mitleid - alles, was ich davon weiß, ist, daß ich vor Jahren daran litt. Ich wollte - das war das einzige, was ich wollte - die äußerste Grenze der Gestaltungsmöglichkeit in einer lebenden Form finden.«
    »Aber«, sagte ich, »die Sache ist ein Greuel -«
    »Bis auf diesen Tag hab’ ich mich um die Ethik der Angelegenheit noch nie bekümmert. Das Studium der Natur macht den Menschen schließlich so gewissenlos, wie die Natur selbst ist. Ich bin vorwärts gegangen, ohne mich um irgend etwas anderes zu kümmern als um die Frage, die ich verfolgte, und das Material ist ... in die Höhlen dort gewandert ... Es ist fast elf Jahre her, daß wir hierherkamen, ich und Montgomery und sechs Kanaken. Ich erinnere mich an die grüne Stille der Insel und des Ozeans um uns, als wäre es gestern gewesen. Die Insel schien auf mich zu warten.
    Die Vorräte wurden gelandet, und das Haus wurde gebaut. Die Kanaken errichteten bei der Schlucht ein paar Hütten. Ich machte mich hier mit dem, was ich mitgebracht hatte, an die Arbeit. Erst passierten ein paar unangenehme Dinge. Ich begann mit einem Schaf und tötete es nach anderthalb Tagen, weil mir das Skalpell ausglitt; ich nahm ein anderes Schaf und

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