Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages
verwandelte sich die Gewohnheit, dem inexistenten Bruder all das anzulasten, was Roberto nicht getan haben konnte, in die Unart, ihm auch das anzulasten, was Roberto tatsächlich getan hatte und nun bereute.
Nicht dass Roberto die anderen belog; aber auf diese Weise gelang es ihm, während er stumm und mit zusammengebissenen Zähnen die Strafe für seine Vergehen auf sich nahm,sich von seiner Unschuld zu überzeugen und sich als Opfer einer Ungerechtigkeit zu fühlen.
Einmal zum Beispiel hatte Roberto, um eine neue Axt auszuprobieren, die soeben geliefert worden war (zum Teil aber wohl auch aus Trotz über irgendein erlittenes Unrecht), einen kleinen Obstbaum gefällt, den sein Vater erst kurz zuvor gepflanzt hatte, mit großen Hoffnungen auf künftige Früchte. Als ihm die Schwere seiner dummen Tat aufgegangen war, hatte er sich schreckliche Konsequenzen ausgedacht, mindestens einen Verkauf an die Türken, die ihn lebenslänglich auf ihren Galeeren rudern lassen würden, und hatte sich entschlossen, die Flucht zu versuchen, um sein Leben als Bandit in den Bergen zu beenden. Auf der Suche nach einer Rechtfertigung war er bald zu der Überzeugung gelangt, dass kein anderer als Ferrante das Bäumchen umgehackt haben konnte.
Dann aber rief der Vater, als er das Delikt entdeckt hatte, alle Jungen des Gutes zusammen und sagte, um zu verhindern, dass sein Zorn sich unterschiedslos über alle ergieße, solle der Schuldige lieber gestehen. Da wurde Roberto von einer mitleidserfüllten Großmut erfasst: Wenn er Ferrante beschuldigen würde, hätte der Ärmste eine neuerliche Verstoßung zu gewärtigen, im Grunde spielte er ja nur den Bösen, um sein Waisendasein zu kompensieren, verletzt vom Schauspiel seiner Eltern, die einen anderen mit ihren Liebesbezeugungen überhäuften ... Und so war Roberto vorgetreten und hatte zitternd vor Furcht und Stolz gesagt, er wolle nicht, dass irgendein anderer an seiner Stelle beschuldigt werde. Es wurde, obwohl es keines war, als Geständnis genommen. Der Vater sagte unter allerlei Räuspern, während er sich den Schnurrbart zwirbelte und die Mutter ansah, das Verbrechen sei zwar überaus schwer und die Bestrafung mithin unvermeidlich, aber er könne auch nicht umhin zuzugeben, dass der junge »Signor della Griva« den Traditionen der Familie Ehre mache und dass ein Ehrenmann sich so zu verhalten habe, auch wenn er erst acht Jahre alt sei. Dann hatte er sein Urteil gesprochen: Roberto werde Mitte August nicht an dem Besuch bei den Vettern in San Salvatore teilnehmen dürfen, was zwar eine schmerzliche Strafe war (in San Salvatore gab es den Weinbauern Quirino, der Robertoauf einen Feigenbaum von schwindelerregender Höhe zu heben verstand), aber gewiss nicht so schlimm wie die Galeeren des Sultans.
Uns kommt die Geschichte einfach vor: Der Vater ist stolz, einen Sprössling zu haben, der nicht lügt, er sieht die Mutter mit schlechtverhohlener Befriedigung an und verhängt eine milde Strafe, um den Schein zu wahren. Aber Roberto hatte damals noch lange über der Sache gebrütet und war schließlich zu der Überzeugung gelangt, dass Vater und Mutter sicher geahnt hatten, dass Ferrante der Schuldige war, so dass sie den brüderlichen Heroismus des vorgezogenen Sohnes zu schätzen wussten und sich erleichtert fühlten, das Familiengeheimnis nicht lüften zu müssen.
Mag sein, dass ich es bin, der hier karge Indizien ausspinnt; Tatsache ist, dass die Anwesenheit jenes abwesenden Bruders in dieser Geschichte noch eine Rolle spielen wird. Wir werden Spuren jenes kindlichen Spiels noch im Verhalten des erwachsenen Roberto wiederfinden – oder jedenfalls in seinem Verhalten zu der Zeit, als wir ihm auf der Daphne begegnen, in einer Lage, die wohl jeden aus der Fassung gebracht hätte.
Aber ich schweife ab; wir müssen noch klären, wie Roberto zur Belagerung von Casale gelangt war. Und hier empfiehlt es sich, der Phantasie freien Lauf zu lassen und sich vorzustellen, wie es gewesen sein könnte.
In La Griva trafen die Neuigkeiten nicht besonders rasch ein, aber seit mindestens zwei Jahren wusste man, dass die Erbfolgefrage im Herzogtum Mantua allerlei Übel im Monferrat nach sich zog, und eine halbe Belagerung hatte es schon gegeben. Um es kurz zu sagen – und die Geschichte ist von anderen schon erzählt worden, wenn auch fragmentarischer –, im Dezember Anno 1627 starb Herzog Vincenzo II. von Mantua, und um das Sterbebett dieses alten Liederjans, der keine Söhne zu zeugen vermocht
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