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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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oben warm und unten kalt fühlt und dann umgekehrt, aber sich im zweiten Fall nicht mehr an den ersten erinnert, dann würde er ja weiter glauben, dass seine innere Bewegung immer dieselbe sei.
    Aber warum soll er, wenn er eine Wahrnehmung von sich hat, nicht auch ein Gedächtnis haben? Das Gedächtnis ist ein Vermögen der Seele, und so klein die Seele, die ein Stein hat, immer auch sein mag, er wird ein entsprechend proportioniertes Gedächtnis haben.
    Ein Gedächtnis zu haben heißt, eine Vorstellung von vorher und nachher zu haben, sonst würde ja auch ich immer glauben, dass die Leiden oder Freuden, an die ich mich erinnere, im Augenblick der Erinnerung gegenwärtig seien. Ich weiß aber, dass sie vergangene Wahrnehmungen sind, denn sie sind schwächer als die gegenwärtigen. Das Problem ist also, ein Zeitgefühl zu haben. Was vielleicht auch für mich schwer sein könnte, wenn die Zeit etwas wäre, was man erlernen muss. Aber habe ich mir nicht vor Tagen gesagt – oder vor Monaten, jedenfalls vor meiner Krankheit –, dass die Zeit die Bedingung und nicht das Ergebnis der Bewegung ist? Wenn die Teile des Steins in Bewegung sind, muss diese Bewegung einen Rhythmus haben, der, wenn auch unhörbar, wie das Geräusch einer Uhr sein wird. Der Stein wäre also die Uhr seiner selbst. Sich in Bewegung zu fühlen heißt, die eigene Zeit vergehen zu fühlen. Die Erde, ein großer Stein am Himmel, fühlt die Zeit ihrer Bewegung, die Zeit des Atmens ihrer Gezeiten, und was sie fühlt, sehe ich am gestirnten Himmel sich abzeichnen: Die Erde fühlt dieselbe Zeit, die ich sehe.
    Also kennt der Stein die Zeit, ja, er kennt sie sogar, noch ehe er seine Temperaturveränderungen als Bewegung im Raum wahrnimmt. Wenn ich recht sehe, braucht er gar nicht bemerkt zu haben, dass sein Kälter- oder Wärmerwerden von seiner Position im Raum abhängt, und könnte es stattdessen als ein Phänomen der Veränderung in der Zeit verstehen, wie den Übergang vom Schlafen zum Wachen oder von der Tatkraft zur Müdigkeit, so wie ich jetzt bemerke, dass mir durch die lange Reglosigkeit, in der ich hier liege, der linke Fuß eingeschlafen ist. Doch nein, der Stein muss auch den Raum fühlen, wenn er die Bewegung da wahrnimmt, wo vorherRuhe war, und die Ruhe da, wo vorher Bewegung war. Er kann also hier und da denken.
    Aber stellen wir uns nun vor, dass jemand diesen Stein aufliest und zwischen andere Steine einfügt, um eine Mauer zu bauen. Wenn er vorher das Spiel seiner inneren Relationen bemerkt hatte, so deshalb, weil er seine Atome in ihrem Bemühen spürte, sich wie Bienenwaben zusammenzufügen, dicht eins ans andere und zwischen die anderen, so wie die Steine eines Kirchengewölbes sich fühlen müssten, wo einer den anderen drückt und alle zum Schlussstein hinaufdrücken, während die Steine in unmittelbarer Nähe des Schlusssteins die anderen nach unten und außen drücken.
    Aber das ganze Gewölbe müsste, wenn es sich einmal an dieses Spiel von Druck und Gegendruck gewöhnt hat, sich als Gewölbe fühlen in der unsichtbaren Bewegung, die seine Ziegel machen, um sich gegenseitig zu drücken; desgleichen müsste es die Anstrengung bemerken, die jemand macht, um es abzureißen, und müsste begreifen, dass es in dem Moment aufhört, ein Gewölbe zu sein, in dem die Mauer unter ihm mitsamt ihren Strebemauern zusammenbricht.
    Wird also der Stein zwischen anderen Steinen so stark eingezwängt, dass er fast zerbricht (und bei noch größerem Druck zerbräche), muss er diesen Zwang spüren einen Zwang, den er vorher nicht gespürt hatte, einen Druck, der sich irgendwann irgendwie auf seine innere Bewegung auswirken muss. Wäre dies dann nicht der Moment, in dem der Stein die Präsenz von etwas außerhalb seiner selbst wahrnähme? Der Stein hätte dann also ein Bewusstsein von der Welt. Oder vielleicht würde er denken, dass die Kraft, die ihn bedrückt, etwas Stärkeres sei als er selbst, und würde die Welt mit Gott gleichsetzen.
    An dem Tag aber, da jene Mauer zusammenbräche und also der Zwang aufhörte – würde der Stein dann das Gefühl der Freiheit verspüren, so wie ich es verspüren würde, wenn ich mich entschlösse, aus diesem mir selbst auferlegten Zwang auszutreten? Wobei ich freilich den Willen haben kann, nicht länger in diesem Zustand zu bleiben, der Stein aber nicht. Infolgedessen ist die Freiheit eine Passion, während der Wille zum Freisein eine Aktion ist, und das ist der Unterschied zwischen mir und dem Stein. Ich kann

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