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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Geistes, so gewappnet durch ihre Winzigkeit, dass kein Schlag sie je treffen kann, fähig zur Flucht durch jede Ritze und imstande, sich ein ganzes Jahr lang von einem einzigen Gerstenkorn zu ernähren; Wesen, so komprimiert, dass man nie weiß, ob es sitzt oder liegt oder steht, und das in einem Schneckenhaus zu ertrinken vermag, Samenkorn, Senffünkchen, I-Punkt, mathematisch Unteilbares, arithmetische Null ...
    Und er hätte noch lange so weitergemacht, hätten die Zuhörer ihn nicht mit einem Applaus unterbrochen.

 
    10
    REFORMIERTE
    LAND- UND GEWÄSSERKUNDE
     
    R oberto verstand jetzt, dass Pater Emanuele im Grunde so vorging, als ob er ein Anhänger Demokrits und Epikurs wäre: Er akkumulierte Atome von Sinnfiguren und setzte sie in verschiedener Weise zusammen, um daraus vielerlei Gegenstände zu bilden. Und wie der Kanonikus von Digne die Ansicht vertreten hatte, dass eine aus Atomen gemachte Welt nicht im Gegensatz zur Idee einer Gottheit stand, die diese Atome nach Maßgabe der Vernunft zusammenfügte, so akzeptierte Pater Emanuele aus jener Staubwolke von Sinnfiguren nur die wirklich geistvollen Bilder. Vielleicht wäre er genauso vorgegangen, wenn er sich aufs Erfinden von Theaterszenen verlegt hätte: Ziehen nicht die Stückeschreiber unwahrscheinliche Ereignisse voller Geist und Witz aus Kombinationen von zwar wahrscheinlichen, aber witzlosen Dingen, um uns mit unerwarteten Handlungseffekten zu ergötzen?
    Aber wenn dem so war, lag dann nicht bloß jenes Zusammentreffen von Umständen vor, das sowohl seinen Schiffbruch wie seine gegenwärtige Lage auf der Daphne verursacht hatte? Während jedes winzige Vorkommnis wahrscheinlich war – der Modergeruch und das leise Knarzen der Schiffsplanken ebenso wie der frische Duft der Pflanzen und das Gezwitscher der Vögel –, erzeugte alles zusammen den Eindruck einer Präsenz, der vielleicht nichts anderes war als der Effekt einer bloß vom Geist wahrgenommenen Phantasmagorie, ganz so wie das Lachen der Wiesen und die Tränen des Taus? Demnach wäre das Phantasma eines verborgenen Eindringlings nur die Kombination von Handlungsatomen, ganz so wie das des verschollenen Bruders, beide geformt aus Teilen seiner eigenen Gesichtszüge und seiner Wünsche oder Gedanken.
    Und als Roberto nun erste Tropfen eines leichten Regens an die Fenster klopfen hörte, der die Mittagshitze ein wenig abkühlen ließ, sagte er sich: Natürlich ist es so, ich bin der Eindringling auf diesem Schiff und nicht der andere, ich störe hier die Stille mit meinen Schritten, und deshalb, gleichsam aus Angst, das Heiligtum eines anderen verletzt zu haben, habe ich mir ein anderes Ich konstruiert, das hier zwischen denselben Wänden umhergeht. Welchen Beweis habe ich denn, dass jener andere existiert? Ein paar Wassertropfen auf ein paar Blättern? Könnte es nicht in der letzten Nacht geregnet haben, so wie jetzt, sei's auch nur wenig? Die Körner? Könnten die Vögel nicht die schon vorhandenen Körner so zusammengescharrt haben, dass ich dachte, jemand habe neue hingeschüttet? Das Fehlen der Eier? Wo ich doch gestern selber gesehen habe, wie ein Falke eine Fliegende Maus verschlang! Ich bevölkere in Gedanken einen Kielraum, den ich noch gar nicht aufgesucht habe, und das tue ich vielleicht nur, um mich zu beruhigen, da mich der Gedanke erschreckt, hier mutterseelenallein und verlassen zwischen Himmel und Meer zu sein. Mein lieber Roberto de La Grive – sagte er sich –, du bist hier allein, und du könntest es bleiben bis ans Ende deiner Tage, und es könnte auch sein, dass dieses Ende gar nicht mehr fern ist: Die Vorräte an Bord sind zwar reichlich, aber für Wochen, nicht für Monate. Also geh lieber rasch hin und stell Gefäße auf, um so viel Regenwasser wie möglich aufzufangen, und lerne, vom Schiff aus Fische zu fangen, auch in der glühenden Sonne. Und eines Tages, früher oder später, wirst du auch einen Weg finden müssen, auf die Insel zu gelangen, um dort als ihr einziger Bewohner zu leben. Das ist es, woran du denken solltest, nicht an Geschichten von verborgenen Eindringlingen und bösen Brüdern ...
    So hatte Roberto sich aufgemacht, um Eimer und leere Fässer zusammenzusuchen und sie auf dem Achterdeck zu verteilen. Das durch die Wolken gefilterte Licht war erträglich gewesen, doch er hatte bei der Arbeit gemerkt, dass er noch ziemlich schwach war. Trotzdem war er nochmals hinuntergestiegen, um den Vögeln Wasser und Körner zu geben (vielleicht damit kein anderer

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