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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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gleichzukommen.
     
    An die Signora denkend und an ihr Fernsein, das er am ersten Tag mit der unerreichbaren Ferne des Landes im Westen verglichen hatte, wandte er sich wieder der Insel zu, von der ihmdas Fernrohr nur kleine blasse Ausschnitte zeigte, aber so, wie es bei den Bildern in jenen konvexen Spiegeln vorkommt, die einem, obwohl sie nur eine Seite eines kleinen Zimmers spiegeln, einen unendlichen kugelförmigen Kosmos vorgaukeln.
    Wie würde ihm die Insel vorkommen, wenn er sie eines Tages betreten würde? Nach der Bühne zu urteilen, die er von seiner Loge aus sah, und nach den Specimen, die er im Unterdeck vorgefunden hatte, war sie vielleicht jener Garten Eden, in dessen Bächen Milch und Honig fließen, inmitten eines Überflusses von Früchten und sanftmütigen Tieren? Was sonst suchten auf jenen Inseln der Südsee die kühnen Seefahrer, die sich zu ihnen aufmachten, ungeachtet der Stürme eines alles andere als Stillen Ozeans? War's nicht dies, was der Kardinal gewollt hatte, als er ihn ausschickte, das Geheimnis der Amarilli zu entdecken: die Möglichkeit, Frankreichs Lilien auf eine Terra incognita zu bringen, die endlich wieder jungfräuliche Gefilde bot, weder berührt von der Sünde Babels noch von der Sintflut, noch vom Sündenfall Adams? Loyal mussten die dort lebenden Menschen sein, dunkelhäutig, aber reinen Herzens, und unbekümmert um die Berge von Gold und die Balsamgewächse, deren nachlässige Hüter sie waren.
    Doch wenn dem so war, hieß es dann nicht, den Fehltritt des ersten Sünders wiederholen, wenn Roberto die Jungfräulichkeit der Insel verletzen wollte? Vielleicht hatte die Vorsehung sie ja zu Recht als keusche Zeugin einer Schönheit gewollt, die er nie würde stören dürfen. War nicht gerade dies der Ausdruck vollkommenster Liebe, wie er sie seiner Signora gestand: von weitem zu lieben, unter Verzicht auf den Stolz des Besitzens? Ist es Liebe, was nach Eroberung strebt? Wenn ihm die Insel eins mit dem Objekt seiner Liebe erscheinen sollte, schuldete er ihr die gleiche Zurückhaltung, die er bei jenem gewahrt hatte. Selbst die rasende Eifersucht, die er jedes Mal verspürt hatte, wenn er fürchtete, das Auge eines anderen habe jenes Sanktuar des Widerstrebens bedroht, war nicht als Beanspruchung eines ihm eigenen Rechts zu verstehen, sondern als Negation des Rechts aller, eine Pflicht, die seine Liebe ihm als dem Hüter jenes Grals auferlegte. Und zur selben Keuschheit musste er sich auch gegenüber der Insel verpflichtet fühlen, die er, jeverheißungsvoller sie ihm erschien, desto weniger würde berühren dürfen. Fern der Signora und fern der Insel, würde er von beiden nur sprechen dürfen, da er sie unbefleckt haben wollte, damit sie unbefleckt bleiben konnten, nur berührt von den Liebkosungen der Elemente. Wenn es dort eine Schönheit gab, war ihr einziger Zweck, zwecklos zu bleiben.
    Aber war die Insel, die er sah, wirklich so? Was ermutigte ihn zu dieser Auslegung ihrer Hieroglyphe? Man wusste doch, dass auf diesen Inseln, deren Lage die Karten nur ungenau angaben, schon seit den ersten Entdeckungsreisen die Meuterer ausgesetzt worden waren, denen sie dann zu Gefängnissen mit Gittern aus Luft wurden, in denen die Gefangenen ihre eigenen Wärter waren, immer darauf bedacht, sich gegenseitig zu strafen. Nicht die Insel zu betreten, um ihr Geheimnis nicht aufzudecken, war also keine Pflicht, sondern das Recht, vor einem Schrecken ohne Ende zu fliehen.
    Oder nein, die einzige Realität der Insel war, dass in ihrer Mitte der Baum des Vergessens stand, dessen Früchte, einladend mit ihren zarten Farben, ihm endlich Frieden gewähren würden.
    Vergessen, das war's: alles aus dem Gedächtnis tilgen. So verbrachte Roberto den Tag, scheinbar untätig, doch höchst aktiv im Bemühen, Tabula rasa zu werden. Und wie es geschieht, wenn man sich bemüht zu vergessen, je mehr er sich bemühte, desto lebhafter regte sich sein Gedächtnis.
    Er versuchte es mit allen Methoden, von denen er gehört hatte. Er stellte sich vor, er wäre in einem Raum voller Gegenstände, die ihn an etwas erinnerten, der Schleier seiner Dame, die Papiere, auf denen er sich ihr Bild vergegenwärtigt hatte, indem er ihre Abwesenheit beklagte, die Möbel und Tapisserien des Palastes, in dem er sie kennengelernt hatte, und er stellte sich vor, wie er all diese Dinge der Reihe nach aus dem Fenster warf, bis der Raum (und mit ihm sein Gedächtnis) nackt und leer war. Er vollführte Riesenanstrengungen, um

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