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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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nicht eingezeichnet war. Sie bot keine anderen Attraktionen als die Einsamkeit, aber der Malteserritter – der das Essen an Bord nicht ertrug und eine starke Abneigung gegen den Kapitän hegte – sagte zu Roberto, es wäre doch schön, jetzt eine Handvoll mutiger und bedenkenloser Männer zu haben, um sich des Schiffes zu bemächtigen, den Kapitän und diejenigen, die ihm folgen wollten, in einer Schaluppe auszusetzen, sodann die Amarilli zu verbrennen und sich auf jener Insel niederzulassen, fern von aller bekannten Welt, um eine neue Gesellschaft zu errichten. Roberto fragte ihn, ob dies die Insel Escondida sei, und er schüttelte traurig den Kopf.
    Von dort segelten sie mit günstigen Passatwinden in nordwestlicher Richtung weiter und kamen zu einer Gruppe von Inseln, auf denen bernsteinfarbene Wilde lebten, mit welchen sie Geschenke tauschten und fröhliche Feste feierten, wobei Mädchen tanzten, indem sie die Bewegungen gewisser Gräser nachahmten, die sich am Strand fast auf der Wasserlinie wiegten. Der Malteser, der offenbar kein Keuschheitsgelübde abgelegt hatte, fand sicherlich Gelegenheit, unter dem Vorwand, einige jener Geschöpfe zu zeichnen (was er mit einer gewissen Geschicklichkeit tat), sich mit einigen von ihnen fleischlich zu vereinigen. Die Mannschaft wollte es ihm nachtun, aber der Kapitän blies vorzeitig zum Aufbruch. Der Malteser schwankte, ob er nicht dableiben solle: Die Tage mit Zeichnen alla grossa zu verbringen schien ihm eine wunderschöne Art, sein Leben zu beschließen. Aber dann kam er zu dem Schluss, dass auch dies nicht Escondida sei.
    Sie bogen noch etwas mehr nach Nordwesten und gelangten zu einer Insel mit sehr sanftmütigen Eingeborenen. Dort blieben sie zwei Tage und zwei Nächte, und derMalteserritter begann, den Insulanern Geschichten zu erzählen. Er erzählte sie in einem Dialekt, den nicht einmal Roberto verstand, umso weniger also die Eingeborenen, doch er behalf sich mit Zeichnungen im Sand und gestikulierte wie ein Schauspieler, womit er Begeisterungsstürme bei den Eingeborenen auslöste, die ihn hymnisch als »Tusitala, Tusitala« besangen. Er überlegte mit Roberto, wie schön es wäre, seine Tage bei diesen Leuten zu beschließen und ihnen alle Mythen der Welt zu erzählen. »Ist dies denn Escondida?«, fragte Roberto. Der Malteser schüttelte den Kopf.
    Er ist bei dem Schiffbruch ertrunken – dachte Roberto auf der Daphne –, und ich habe vielleicht seine Escondida gefunden, aber ich werde es ihm nie erzählen können und auch sonst niemandem ... Vielleicht schrieb er deshalb an seine Signora. Um zu überleben, muss man Geschichten erzählen.
    Sein letztes Luftschloss baute der Malteser eines Abends, wenige Tage vor dem Schiffbruch und nicht weit von der Stelle, wo sich das Unglück ereignen sollte. Sie fuhren an einem Archipel vorbei, den der Kapitän nicht aufzusuchen beschlossen hatte, da Doktor Byrd anscheinend Wert darauf legte, wieder in Richtung Äquator zu fahren. Im Laufe der Reise war es für Roberto evident geworden, dass der Kapitän sich nicht so verhielt, wie er es von anderen Seefahrern gehört hatte, die peinlich genau alle neuen Länder vermerkten, um ihre Karten zu vervollkommnen, indem sie die Form der Wolken einzeichneten, die Küstenlinien zogen, einheimische Objekte sammelten und dergleichen mehr. Die Amarilli dagegen bewegte sich, als wäre sie die fahrende Höhle eines Alchimisten, der sich nur für sein Schwarzes Werk interessierte, gleichgültig für die große Welt, die sich vor ihm auftat.
    Es war Sonnenuntergang, das Spiel der Wolken mit dem Himmel, gegen den Schatten einer Insel, zeichnete auf der einen Seite so etwas wie smaragdene Fische, die über dem Gipfel schwammen. Auf der anderen kamen wütende Feuerbälle. Darüber graue Wolken. Gleich darauf verschwand eine glühende Sonne hinter der Insel, aber ein breites Rosa spiegelte sich auf den Wolken, die am unteren Rande blutig erschienen. Wenige Sekunden später hatte sich die Feuersbrunst hinter der Insel so ausgebreitet, dass sie über dem Schiff loderte. Der Himmel war ein einziges Feuerbeckenvor einem Hintergrund weniger blauer Streifen. Dann neuerlich überall Blut, als würden verstockte Sünder von einem Schwarm von Haien zerrissen.
    »Vielleicht wäre es richtig, jetzt zu sterben«, sagte der Malteserritter. »Packt Euch nicht das Verlangen, Euch an die Mündung einer Kanone zu hängen und ins Meer gleiten zu lassen? Es würde schnell gehen, und in dem Augenblick würden

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