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Die Insel Des Vorigen Tages

Die Insel Des Vorigen Tages

Titel: Die Insel Des Vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Vielfalt der Eidechsen grenzenlos sei.
    Doch die reichste Fauna finde sich längs des Korallenriffs. Schildkröten, Krebse, Austern in jeder Form, nicht zu vergleichen mit denen, die man in unseren Meeren finde, groß wie Körbe, wie Töpfe, wie Schüsseln, oft schwer zu öffnen, aber wenn man sie einmal aufbekommen habe, böten sie Massen von weißem Fleisch, weich und fett, echte Leckerbissen. Leider habe man sie nicht an Bord bringen können: kaum aus dem Wasser geholt, seien sie in der Sonne verdorben.
    Von den großen wilden Tieren, die es in anderen Gegenden Asiens so zahlreich gebe, hätten sie keines gesehen, weder Elefanten noch Tiger, noch Krokodile. Und es habe auch nichts gegeben, was einem Ochsen, einem Stier, einem Pferd oder einem Hund gliche. Als wären auf jener Insel alle Formen des Lebens nicht von einem Baumeister oder Bildhauer gestaltet worden, sondern von einem Goldschmied: die Vögel wie bunte Kristalle, die Tiere des Waldes klein, die Fische flach und fast durchsichtig.
    Weder Pater Caspar noch der Kapitän oder die Matrosen hatten den Eindruck gewonnen, daß es in jenen Gewässern Haifische gab, die man schon von weitem an ihrer messerscharfen Heckflosse erkennen würde. Dabei gibt es sie in jenen Meeren praktisch überall. Mir scheint dieser Eindruck, daß es vor der Insel und rings um sie keine Haie gegeben habe, eine Illusion jenes skurrilen Forschers gewesen zu sein, oder vielleicht hatte er recht mit seiner Annahme, daß diese Tiere sich lieber in einer etwas weiter westlich befindlichen großen Strömung aufhielten, wo sie sicher waren, Nahrung im Überfluß zu finden. Doch wie dem auch sein mochte, es ist gut für den Fortgang unserer Geschichte, daß weder Caspar noch Roberto die Anwesenheit von Haien fürchteten, andernfalls hätten sie nicht den Mut gehabt, ins Wasser zu steigen, und ich wüßte nicht, was ich erzählen soll.
    Roberto lauschte all diesen Beschreibungen hingerissen und verliebte sich immer mehr in die Insel, versuchte sich die Formen, die Farben, die Bewegungen der Geschöpfe vorzustellen, von denen ihm der Pater erzählte. Und die Korallen, wie waren diese Korallen, die er nur als Schmuckstücke kannte, die einer poetischen Definition zufolge die Farbe der Lippen einer schönen Frau hatten?
    Über die Korallen fand Pater Caspar keine Worte und hob nur die Augen mit einem Ausdruck der Seligkeit zum Himmel. Diejenigen, von denen Roberto spreche, sagte er dann, seien tote Korallen, so tot wie die Tugend jener Kurtisanen, auf welche die Libertins jenen abgedroschenen Vergleich gemünzt hätten. Und auf dem Riff gebe es auch tote Korallen, und das seien diejenigen, an denen man sich verletze, wenn man jene Steine berühre. Aber in nichts könnten sie sich mit den lebendigen Korallen messen, die sozusagen unterseeische Blumen seien, Anemonen, Hyazinthen, Hahnenfüße, Liguster, Levkojen - ach was, das sage noch gar nichts, sie seien ein Fest von Löckchen, Kringeln, Bläschen, Beeren, Knospen, Kletten, Trieben, Schößlingen, Herzchen, oder nein, noch anders seien sie: beweglich, buntfarben wie der Garten Armidas, und sie imitierten alle Früchte des Feldes, des Waldes und des Gartens, von der Gurke über den Kaiserling bis zum Kohlkopf...
    Er habe schon anderswo welche gesehen, vermittels eines Instrumentes, das einer seiner Mitbrüder konstruiert habe (und nach einigem Suchen förderte er das Instrument aus einer Kiste in seiner Kajüte zutage). Es sei wie eine Maske aus Leder mit einem kurzen dicken Fernrohr in der Mitte und die Ränder gesäumt und verstärkt, das Ganze mit zwei Bändern versehen, die man im Nacken zusammenbinde, so daß die Maske fest auf dem Gesicht anliege, von der Stirn bis zum Kinn. Man müsse auf einem Boot mit geringem Tiefgang fahren, um nicht an die Klippen unter Wasser zu stoßen, müsse den Kopf hinunterbeugen, bis er ins Wasser tauche, und dann könne man auf den Grund sehen - während man, wenn man den Kopf unbewehrt ins Wasser tunken würde, ganz abgesehen von dem Brennen der Augen, überhaupt nichts sähe.
    Pater Caspar meinte, daß dieses Gerät - er nannte es Perspicillium , »Durchsehgerät«, oder Persona Vitrea , »Gläserne Maske« (eine Maske, die nicht verbirgt, sondern im Gegenteil enthüllt) - auch von jemandem getragen werden könnte, der gelernt hätte, zwischen den Korallenfelsen zu schwimmen. Zwar würde das Wasser nach einer Weile eindringen, aber eine Zeitlang würde man, wenn man den Atem anhalte, schon sehen können.

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