Die Insel Des Vorigen Tages
Familiengeheimnis nicht lüften zu müssen.
Mag sein, daß ich es bin, der hier karge Indizien ausspinnt; Tatsache ist, daß die Anwesenheit jenes abwesenden Bruders in dieser Geschichte noch eine Rolle spielen wird. Wir werden Spuren jenes kindlichen Spiels noch im Verhalten des erwachsenen Roberto wiederfinden - oder jedenfalls in seinem Verhalten zu der Zeit, als wir ihm auf der Daphne begegnen, in einer Lage, die wohl jeden aus der Fassung gebracht hätte.
Aber ich schweife ab; wir müssen noch klären, wie Roberto zur Belagerung von Casale gelangt war.
Und hier empfiehlt es sich, der Phantasie freien Lauf zu lassen und sich vorzustellen, wie es gewesen sein könnte.
In La Griva trafen die Neuigkeiten nicht besonders rasch ein, aber seit mindestens zwei Jahren wußte man, daß die Erbfolgefrage im Herzogtum Mantua allerlei Übel im Monferrat nach sich zog, und eine halbe Belagerung hatte es schon gegeben. Um es kurz zu sagen - und die Geschichte ist von anderen schon erzählt worden, wenn auch fragmentarischer -, im Dezember Anno 1627 starb Herzog Vincenzo II. von Mantua, und um das Sterbebett dieses alten Liederjans, der keine Söhne zu zeugen vermocht hatte, war es zu einem Ballett von vier Thronprätendenten gekommen, sekundiert von ihren Agenten und Protektoren. Sieger war der Marquis von Saint-Charmont geworden, der dem Sterbenden hatte einreden können, daß die Erbschaft einem Vetter vom französischen Zweig gebühre, dem Herzog von Nevers, Charles de Gonzaga. In den letzten Zügen liegend, veranlaßte oder erlaubte der alte Vincenzo, daß dieser Charles in großer Eile seine Nichte Maria Gonzaga ehelichte, und sterbend vererbte er ihm das Herzogtum.
Nun war jedoch dieser Nevers ein Franzose, und das Herzogtum, das er geerbt hatte, umfaßte auch die Markgrafschaft Monferrat mit ihrer Hauptstadt Casale, der bedeutendsten Festung in Oberitalien.
Zwischen dem spanisch beherrschten Mailand und den Ländereien der Savoyer gelegen, erlaubte es die Kontrolle des oberen Po, der Transitwege von den Alpen nach Süden einschließlich der Straße von Mailand nach Genua, und wie ein Pufferkissen schob es sich zwischen Frankreich und Spanien -
während keine der beiden Mächte sich auf jenes andere Pufferkissen verlassen konnte, welches das Herzogtum von Savoyen darstellte, in dem Carlo Emanuele I. ein Spiel zu spielen beliebte, das doppelt zu nennen großmütig wäre. Wenn das Monferrat an Nevers fallen würde, wäre es so, wie wenn es an Richelieu fallen würde; kein Wunder also, daß Spanien es lieber an jemand anderen fallen sähe, zum Beispiel an den Herzog von Guastalla. Außerdem hatte auch der Herzog von Savoyen einen gewissen Anspruch auf das Erbe. Da jedoch ein Testament vorlag und eindeutig den Nevers als Erben benannte, blieb den anderen Prätendenten nur noch die Hoffnung, daß der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, der formell der Lehnsherr des Herzogs von Mantua war, die Erbfolge nicht genehmigte.
Aber die Spanier waren ungeduldig, und in der Erwartung, daß der Kaiser eine Entscheidung treffe, war Casale schon einmal belagert worden, damals von Gonzalo de Cordoba, und nun wurde es erneut belagert, diesmal von einer imposanten Armee aus Spaniern und Kaiserlichen unter dem Befehl des erfahrenen Generals Ambrogio Spinola. Die französische Garnison rüstete sich zum Widerstand in Erwartung einer französischen Entsatzarmee, die allerdings noch im Norden beschäftigt war, so daß Gott allein wußte, ob sie rechtzeitig eintreffen würde.
Dies war, mehr oder minder, der Stand der Dinge, als der alte Pozzo etwa Mitte April die jüngsten Mitglieder seiner Familie und die aufgewecktesten seiner Bauern vor dem Schloß versammelte, sämtliche auf dem Gut vorhandenen Waffen unter ihnen verteilte, seinen Sohn Roberto rief und vor allen die folgende Rede hielt, die er sich während der Nacht zurechtgelegt haben mußte: »Leute, hergehört. Dies unser Landgut La Griva hat seinen Tribut seit jeher dem Marchese von Monferrat entrichtet, was seit einiger Zeit so ist, als wenn’s der Herzog von Mantua wäre, der nun dieser Herr von Nevers geworden ist, und wer mir jetzt kommt und sagt, daß der Nevers weder ein Mantuaner noch ein Monferriner ist, der kriegt von mir einen Tritt in den Hintern, alldieweil ihr allesamt ignorante Lackel seid, die von diesen Dingen kein’ Deut verstehn, also seid lieber still und laßt euern Herrn machen, der wenigstens noch weiß, was Ehre ist. Alldieweil euch
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