Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel Des Vorigen Tages

Die Insel Des Vorigen Tages

Titel: Die Insel Des Vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
können, er begnügte sich damit, ihn eines Tages dort erscheinen zu lassen, ausgerüstet mit ein paar guten Empfehlungsschreiben und einer neuen Verkleidung: eine Perücke und ein weißer Bart, ein mit Pomade und Tinkturen auf älter geschminktes Gesicht und eine schwarze Klappe über dem linken Auge - voilà, l’Abbé de Morfi.
    Roberto konnte sich nicht gut vorstellen, daß Ferrante, der ihm in allem und jedem glich, an jenen nun schon so fernen Abenden neben ihm stand, doch er erinnerte sich, einen älteren Abbé mit einer Augenklappe gesehen zu haben, und beschloß, der müsse Ferrante gewesen sein.
    Der somit nun in genau jenen Kreisen - und nach mehr als zehn Jahren - den langgesuchten Roberto wiedergefunden hatte! Man kann den freudigen Neid nicht ausdrucken, mit dem jener Ruchlose den verhaßten Bruder wiedersah. Mit einer Miene, die vor lauter Mißgunst völlig entstellt und verzerrt gewesen wäre, hätte er sie nicht unter seiner Maskerade verborgen, sagte er sich, daß er nun endlich Gelegenheit haben würde, Roberto zu vernichten und sich seines Namens und seiner Güter zu bemächtigen.
    Zunächst beobachtete er ihn über Wochen und Wochen an jenen Abenden, musterte und studierte sein Gesicht, um die Spur noch seiner geringsten Gedanken zu erhaschen. Sosehr er es gewohnt war, seine eigenen Regungen zu verbergen, so gut konnte er die der anderen erraten. Im übrigen kann man die Liebe nicht verbergen: wie jedes Feuer verrät sie sich durch den Rauch. Robertos Blicken folgend, hatte Ferrante sofort begriffen, daß sein Bruder die Signora liebte. Und hatte sich vorgenommen, ihm als erstes das wegzunehmen, was ihm das Liebste war.
    Ferrante hatte bemerkt, daß Roberto, nachdem er die Aufmerksamkeit der Signora durch seine Rede auf sich gezogen hatte, nicht den Mut gehabt hatte, sich ihr zu nähern. Die Befangenheit seines Bruders kam ihm zupaß: Die Signora konnte sie als Desinteresse mißverstehen, und eine Frau zu mißachten ist der beste Weg, sie zu erobern. Roberto war also dabei, Ferrante den Weg zu ebnen. Eine Zeitlang ließ Ferrante die Signora in einer zweifelnden Erwartung schmoren, dann - im genau kalkulierten Moment -
    begann er sie zu umschmeicheln.
    Aber konnte Roberto seinem bösen Bruder eine Liebe nach Art der eigenen zugestehen? Gewiß nicht.
    Ferrante betrachtete die Frau als Inbild des Wankelmutes und Herrin der Täuschung, flatterhaft in der Sprache, spät im Handeln und rasch in der Laune. Erzogen von finster dreinblickenden Asketen, die ihm bei jeder Gelegenheit in Erinnerung riefen: El hombre es el fuego, la mujer la estopa, viene el diablo y sopla - Der Mann ist das Feuer, die Frau das Werg, es kommt der Teufel und bläst hinein -, hatte er sich daran gewöhnt, jede Tochter Evas als ein unvollkommenes Tier zu betrachten, einen Irrtum der Natur, eine Folter für die Augen, wenn häßlich, eine Beschwernis des Herzens, wenn schön, eine Tyrannin für den, der sie liebte, eine Feindin für den, der sie verachtete, chaotisch in ihren Gelüsten, unversöhnlich in ihren Abneigungen, fähig, mit dem Mund zu verzaubern und mit den Augen zu fesseln.
    Doch gerade diese Verachtung der Frau drängte ihn, sie zu verfuhren: Von den Lippen troffen ihm Schmeichelworte, aber im Herzen feierte er die Erniedrigung seines Opfers.
    Ferrante schickte sich also an, die Hände auf jenen Leib zu legen, den Roberto nicht einmal in Gedanken zu streifen gewagt hatte! Dieser Widerling, dieser Verächter all dessen, was Roberto heilig war, sollte ihm seine Lilia wegnehmen, um sie zur faden Verliebten in seiner Komödie zu machen? Welche Qual!
    Und welche leidvolle Pflicht, sich an die kranke Logik der Romane zu halten, die verlangt, daß man die widerwärtigsten Leidenschaften teilt, wenn man als Frucht der eigenen Phantasie den widerwärtigsten aller Protagonisten kreiert.
    Aber es ging nicht anders, es war unvermeidlich: Ferrante würde Lilia besitzen - und andernfalls, wozu kreiert man eine Fiktion, wenn nicht, um daran zu sterben?
    Was genau und wie es passiert war, vermochte Roberto sich nicht vorzustellen (weil er es nie zu probieren vermocht hatte). Vielleicht war Ferrante bei Nacht in Lilias Kammer eingedrungen, sicher durchs Fenster, nachdem er an einem Efeu (mit zähem Rankenwerk, nächtliche Einladung an jedes liebende Herz) zu ihrem Alkoven hinaufgeklettert war.
    Hier Lilia, die alle Zeichen ihrer beleidigten Tugend vorweist, so überzeugend, daß jeder ihr die Empörung geglaubt hätte, außer

Weitere Kostenlose Bücher