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Die Insel Des Vorigen Tages

Die Insel Des Vorigen Tages

Titel: Die Insel Des Vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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unteilbar. Fest steht, daß jede Linie in zwei gleiche Teile geteilt werden kann, wie lang oder kurz sie auch sein mag. Wenn jedoch ihre Länge gleichgültig ist, muß es auch möglich sein, eine Linie zu teilen, die sich aus einer ungeraden Zahl von Unteilbarkeiten zusammensetzt. Das aber würde heißen, wenn die beiden Teile nicht ungleich ausfallen sollen, daß die mittlere Unteilbarkeit in zwei geteilt werden muß. Da aber diese ihrerseits ausgedehnt ist und also ebenfalls eine Linie darstellt, wenn auch eine unvorstellbar kurze, müßte sie ebenfalls in zwei gleiche Teile geteilt werden können. Und so weiter ad infinitum.
    Der Kanonikus hatte gesagt, auch das Atom setze sich aus Teilen zusammen, es sei nur derart kompakt, daß wir es niemals würden noch weiter zerteilen können. Wir nicht. Aber andere?
    Kein fester Körper ist so kompakt wie das Gold, und doch können wir eine Unze dieses Metalls nehmen, und aus dieser Unze wird der Goldschläger tausend Folien Blattgold gewinnen, und die Hälfte dieser Folien wird genügen, um die gesamte Oberfläche eines Silberbarrens zu vergolden. Und aus derselben Unze Gold können die Hersteller der Gold- und Silberfäden für die Besatzware mit ihren Zieheisen einen Faden ziehen, der so dünn wie ein Haar ist und die Länge einer Viertelmeile oder vielleicht noch mehr erreicht. Der Handwerker hört an einem bestimmten Punkt auf, weil ihm das geeignete Werkzeug fehlt und weil er einen noch dünneren Faden mit bloßem Auge gar nicht mehr erkennen würde. Aber Insekten - so winzige, daß wir sie gar nicht sehen können, und so fleißige und kluge, daß sie alle Handwerker unserer Gattung an Geschicklichkeit übertreffen - könnten den Goldfaden noch so weit verlängern, daß er von Turm bis nach Paris reichen würde. Und wenn es die Insekten dieser Insekten gäbe, zu welcher Feinheit würden sie den Faden noch bringen?
    Wenn ich mit Argusaugen in die Polygone dieser Koralle eindringen könnte und in die Fäden, die sich darin ausbreiten, und in die Fasern, aus denen die Fäden bestehen, dann könnte ich die Suche nach dem Atom ohne Ende fortsetzen. Doch ein Atom, das sich ohne Ende immer weiter zerschneiden läßt, indem es immer kleinere Teile hervorbringt, die sich immer weiter zerschneiden lassen, könnte mich an einen Punkt bringen, wo die Materie nichts anderes mehr wäre als unendliche Zerlegbarkeit, und ihre ganze Härte und ihre Fülle würden sich letztlich auf dieses einfache Gleichgewicht zwischen Leerräumen stützen. Statt also Abscheu vor dem Vakuum zu haben, würde die Materie das Vakuum geradezu anbeten und sich aus ihm zusammensetzen, sie wäre in sich selbst Vakuum, absolute Leere. Die absolute Leere stünde im Zentrum des undenkbaren geometrischen Punktes, und dieser Punkt wäre nichts anderes als jene Insel namens Utopia, die wir träumen in einem Ozean, der immer und überall nur aus Wasser besteht.
    Die Hypothese einer aus Atomen bestehenden materiellen Ausdehnung würde also dazu führen, daß man am Ende keine Atome mehr hat. Was bliebe übrig? Eine Anzahl von Wirbeln. Nur würden diese Wirbel keine Sonnen und Planeten mit sich reißen, also volle Materie, die sich ihrem Wind widersetzt, denn auch Sonnen und Planeten wären ja Wirbel, die in ihrer Drehung kleinere Wirbel mitrissen. Der allergrößte Wirbel, der die Galaxien wirbeln ließe, hätte in seinem Zentrum andere Wirbel, und diese wären ihrerseits Wirbel von Wirbeln, Strudel, bestehend aus anderen Strudeln, und der Abgrund des großen Strudels von Strudeln von Strudeln versänke ins Unendliche und hielte sich auf dem Nichts.
    Und wir, die Bewohner der großen Koralle des Kosmos, würden das Atom für volle Materie halten (obwohl wir es nicht sehen können), während es doch ebenfalls, wie alles übrige, ein Gespinst von Leerräumen im Leeren ist, und wir würden von »sein« und »dicht« und sogar von »ewig« sprechen bei jenem Reigen von Inkonsistenzen, jener unendlichen Ausdehnung, die sich mit dem absoluten Nichts identifiziert und aus dem eigenen Nichtsein die Illusion des Ganzen erzeugt.
    Bin ich also hier dabei, mir Illusionen über die Illusion einer Illusion zu machen, ich als Illusion meiner selbst? Und habe ich erst alles verlieren und in diesen verlorenen Winkel der Antipoden geraten müssen, um zu begreifen, daß es nichts zu verlieren gibt? Aber wenn ich das begreife, gewinne ich dann nicht womöglich alles, da ich der einzige denkende Punkt werde, in dem das Universum seine

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