Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans
etwas von der Aura der Rōnin, der Samurai, die kein Fehler ihres Herrn von der äußersten Loyalität zu ihm entbindet; gerade sein Fehler ist deren Prüfstein. Familienloyalität ist ein Wert an sich. (Das gilt auch für das organisierte Verbrechen, die Yakuza.)
Nachtrag à propos Kriegsschuld: hat man bemerkt, wie diskussionslos Japan seit dem Krieg jedes militärische Engagement – auch das durch die UNO völkerrechtlich gedeckte – vermeidet? Auch eine Form tätiger Reue: die Unterlassung. Das japanische Kind tut nicht nur gebrannt, es ist gebrannt.
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Was geht in einem Japaner vor, wenn ihm Kritik begegnet? Hier ein Übersetzungsversuch:
»Du machst mir einen schweren Vorwurf, störst damit unsere Harmonie. Da ich dich für einen zivilisierten Menschen halten möchte, würdest du mich natürlich nicht ohne die stärksten persönlichen Gründe derart beschämen. Ich muß anerkennen, daß ich mir von deinen Gefühlen kein ausreichendes Bild gemacht habe. Dafür habe ich mich zu entschuldigen. Natürlich belaste ich dich damit meinerseits, weil du eine solche Entschuldigung ja als Vorwurf an deine Rücksichtslosigkeit verstehen wirst. Dafür müßte ich mich abermals entschuldigen, und wir gerieten in einen Teufelskreis. Ich hoffe uns wenigstens in diesem Punkt einig, daß wir die Sache keineswegs weitertreiben dürfen und so rasch wie möglich vom Tisch wischen. Mit meiner Entschuldigung bin ich dir symbolisch entgegengekommen. Dafür wirst du deinerseits nicht im Ernst erwarten, daß ich meine Haltung ändere. Schweigen wir also davon und reden wir von etwas Freundlichem.«
Warum tut sich der westliche Partner so schwer mit der Einsicht, die dem Japaner selbstverständlich ist: daß die Sorge von Menschen zuerst der Beziehung gelten muß und danach erst der Sache – wenn sich diese nicht schon durch Höflichkeit erledigt hat?
Und was den Krieg betrifft: nur an der Beziehung der Feinde ist noch etwas zu verbessern; die Vergangenheit bleibt ohnehin unveränderlich.
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Wo der Vergangenheit mit Vergessen am besten gedient ist, hat die Psychoanalyse ihr Recht verloren. Sie ist eine Pflanze der Aufklärung, die in Japan nicht stattgefunden hat, und dort so wenig einheimisch wie das kartesianische Denken oder die Entdeckung der Perspektive. Was hat diese an einem Wolkenhimmel zu suchen? Was soll der Ödipuskomplex in einer Kultur, die (solange die Sache in der Familie bleibt) auch die sexuelle Betreuung eines erwachsenen Sohnes durch seine Mutter toleriert? Sie ist durch ihre Rücksicht entschuldigt: Auf diese Weise kann sich der Junge besser auf seine Studien konzentrieren, ohne Ablenkung durch Mädchengeschichten. – Das kräftigste Argument, das ich in einer Fernsehdiskussion gegen diesen fürsorglichen Inzest gehört habe, kam von einer jungen Frau und war seinerseits ganz pragmatisch: Was soll die künftige Ehefrau mit einem derart verwöhnten und unselbständigen Mann anfangen?
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Das Wohnen in Räumen ohne real existierende Intimsphäre untersteht eigenen Gesetzen. Man lernt sich darin bewegen, ohne Anwesenheit zu signalisieren, wie die schwarzen Diener auf der japanischen Bühne. Da die Schlafmatten überall ausgebreitet werden können, ist das »Elternschlafzimmer« keine zwingende Größe. So flexibel die Kombinierbarkeit familiärer Beziehungen, so umfassend die Zuständigkeit der Mutter für die Kinder; um so viel weniger exklusiv die Partnerschaft von Mann und Frau. Die traditionelle Rollenverteilung sichert sie wiederum gegen unrealistische Erwartungen (etwa diejenige, daß man in der Ehe finden
müsse, was einem in der Kindheit gefehlt hat).
Das Paar, das ungestört sein will, geht ins Love Hotel, zu genau dem Zweck, den dieses im Namen führt; darum ist es kein Bordell. Denn es wird von Eheleuten ebenso benützt wie von Studentenpaaren – eher als vom Chef mit seiner Sekretärin, denn daraus könnte ein heikler Fall werden. Die Autoschilder werden allen Kunden gleichermaßen abgedeckt, diskret, und diese begegnen auch im Innern des Bunkers keiner dritten Person. Wenn das Paar sich das Zimmer seiner Wahl auf einer beleuchteten Schautafel ausgesucht hat, betätigt es durch das Ziehen des Schlüssels einen elektronischen Wegweiser, der es in sein romantisch oder phantastisch verkleidetes Liebesnest steuert. Am Ende ist von der Kasse nur der Zahltisch sichtbar, niemals der Kassierer.
Der fensterlose Schutzraum ist ein Ort sozialen Taktes, nicht
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