Die Insel: (Inseltrilogie #1) (German Edition)
nicht weiter wegen der Verabredung nach.
„Dass Saul Dinge weiß, die er uns nicht verrät. Wichtige Dinge.“
„Und woher will Andy das so genau wissen?“
Maras Stimme wird zu einem Flüstern: „Er hat es in der Schrift gesehen.“
„Wann?“
„Er konnte nicht lange lesen. Saul hat die Schrift nach einer seiner Reden auf dem Tisch liegen gelassen. An dem Abend, als wir uns den Kampf zwischen Max und deinem Bruder anschauen mussten. Andy konnte sich nicht zurückhalten, einen Blick zu riskieren.“
„Tatsächlich.“ Ich schaue sie verdutzt an. Dabei habe ich immer geglaubt, Saul könne nur die Kapitel für bestimmte Tage aussuchen. Anscheinend wurden einige Kapitel niemals ausgesucht.
Wovor hatte er Angst?
„Die Schrift besagt, dass Zusammenarbeit die wichtigste Über lebensregel ist,“ fährt Mara fort. „Wenn wir zusammen arbeiten, haben wir den besten Zugriff auf die Macht. Wir brauchen gar keinen Anführer.“
„Aber... das ist nicht richtig,“ stammle ich. „Es ist das Gesetz des Anpassungsfähigsten was zählt.“
„Nein, das stimmt nicht. Eine Gruppe ist am stärksten, wenn wir alle etwas beitragen. Wenn jemand nur alle Kraft aus der Macht für sich selbst abschöpfen will, wird er böse. Und alle, die einem solchen Anführer folgen, werden ebenfalls das Licht verlieren.“
„Wenn das so ist, müssen wir was tun!“, zische ich leise, obwohl niemand in der Nähe ist, der uns belauschen könnte. „Wenn Saul uns anlügt...“
Mara seufzt abwehrend. „Es wäre an uns Beweise aufzutreiben. Aber wir können gar nichts beweisen. Andy konnte nur einen kurzen Blick auf die Seite werfen, aber sie nicht herausreißen, damit wir sie herumzeigen können.“
Den Rest des Rückwegs setzte ich nur benommen einen Fuß vor den anderen ohne überhaupt hinzusehen. Ich kriege Maras Geschichte einfach nicht aus dem Kopf. Es würde bedeuten, dass wir von einem machthungrigen Typen belogen wurden, der uns in die Wildnis schickt, um nach der Macht zu suchen, damit er sie uns stehlen kann. Vielleicht sollte ich Colin davon erzählen.
***
Am Tor im Zaun, der um das Grundstück des Landguts herum läuft, wartet eine Frau. Jemand aus dem Dorf. Vielleicht ist sie hier, um uns Neuigkeiten aus Newexter zu bringen oder um einen Brief von Saul abzuholen.
Erst als sie sich umdreht, erkenne ich sie. Braunes Haar. Müde, blaue Augen, die mich anstarren. Vor sechs Jahren konnten diese Augen mich nicht ansehen, als ich mein Elternhaus verließ.
Die Frau ist meine Mutter.
-3-
„WAS - was machst du denn hier?“ stammle ich.
Mara schaut meine Mutter an als hätte sie einen Geist gesehen. Tatsächlich ist die Begebenheit fast schon genauso ungewöhnlich: Eltern besuchen ihre Kinder niemals auf dem Landgut. Warum sollten sie? Wir brauchen sie nicht. Wir können uns sowieso nicht auf sie verlassen.
Mutter streckt die Hand nach mir aus und legt sie auf meine Schulter. „Leia. Du bist so groß geworden.“ Ihr Blick landet auf der Halskette, die ich trage. Tränen schwimmen in ihren Augen. „Wie geht’s dir?“
„Gut“, antworte ich steif.
„Und wie geht’s Colin?“
„Auch gut.“
Ihre Augen weichen nicht von meinem Gesicht. „Ich hab dich so vermisst“, wispert sie. „Ich hätte euch beide nie gehen lassen dürfen.“
Ich blinzle. „Was meinst du damit? So ist das nun mal.“
Sie schüttelt den Kopf. „Das glaube ich nicht mehr“, murmelt sie kaum hörbar.
„Was meinst du damit, dass du das nicht mehr glaubst?“
„Es ist nicht richtig.“ Sie wringt ihre Hände. „Es kann nicht richtig sein, seine Kinder schon so früh loszulassen.“
„Und was ist mit Vater?“, frage ich perplex.“Steht er als nächstes auf der Matte?“
„Dein Vater ist tot“, antwortet sie monoton.
Ich schlucke den Kloß in meinem Hals während sich die Stille zwischen uns in die Länge zieht.
„Tot?“, wiederhole ich benebelt.
Meine Mutter nickt nur.
Damit habe ich nicht gerechnet. Ich habe damit gerechnet, meinen Eltern in einen paar Jahren wieder über den Weg zu laufen. Ich hätte sie von weitem gesehen, am anderen Ende des Marktplatzes. Ich hätte mich höflich mit ihnen im Dorf laden unterhalten. Sie hätten mich niemals besucht. Sie hätten meine Kinder niemals kennengelernt, aber sie wären wenigstens in der Nähe gewesen.
Ich werde meinen Vater niemals wiedersehen.
„Was ist passiert?“, frage ich vorsichtig.
„Die Grippe hat ihn erwischt. Er hatte hohes Fieber und der
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