Die Insel: (Inseltrilogie #1) (German Edition)
grobe Umarmung. „Komm mit mir“, murmelt er in mein Haar, „wenn ich zurück nach Newexter gehe. Bleib nicht ohne mich hier zurück. Wir können uns zusammen um Mutter kümmern.“
Uns um Mutter kümmern. Eine verdrehte Welt.
„Ich kann nicht“, widerspreche ich. „Noch nicht. Ich habe keinen Freund. Wenn ich jetzt gehe, werde ich niemals heiraten. Ich werde den Rest meines Lebens allein sein.“
„Was ist mit Andy?“
„Er ist mit Mara zusammen.“
„Achso.“ Dabei belässt er es zum Glück.
Eigentlich kam ich her, um Colin von Andy zu erzählen und was er über die Schrift gesagt hat, aber mein Bruder ist gerade zu aufgewühlt. Besser ich gehe und suche erst einmal Andy. „Hör mal, wir reden nochmal beim Abend essen. Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen“, beende ich unsere Unterhaltung schnell.
Ich drehe mich nicht um als Colin mir nachruft. Ich möchte den traurigen Ton in seiner Stimme nicht hören; der Beweis für den Schmerz, den er wegen Vaters Tod empfindet. Es würde mich nur verunsichern und an mir zweifeln lassen. Denn ganz tief drin bin ich genauso aufgewühlt wie mein Bruder.
***
Mara ist noch immer im Waschhaus, bis zu den Ellenbogen in trübem, seifigem Wasser. Sie wäscht grade ein Paar braune Hosen. Der Geruch von nasser Wolle und Lavendel seife schwängert den Raum.
„Hey“, sage ich, während ich einen mitleidigen Blick auf den riesigen Haufen Wäsche werfe, den sie sich noch vorknöpfen muss. „Weißt du, wo Andy ist?“
Mara wischt sich über die Stirn. „Er hat meinetwegen Ben gegenüber das Maul zu weit aufgerissen und das nicht ohne Konsequenzen. Er muss heute Abend gegen Max und Cal kämpfen.“
Ich blinzle ungläubig. „Du meinst, gegen beide gleich zeitig?“
„Ja.“ Maras Unterlippe beginnt zu zittern und sie bricht in Tränen aus als ich ihr meinen Arm um die Schultern lege. „Das ist nicht fair.“
Mir dreht sich der Magen um. Wir müssen endlich von hier verschwinden. Saul bricht jeden, der eine Seele hat. Aber wo sollen wir hingehen? Sollen wir uns bei den Eltern verstecken?
„Ist ja gut“, tröste ich sie. „Ich helf dir auch.“
Ich arbeite hart; verdränge den Gedanken, Saul zur Rede zu stellen, ganz nach hinten in meinen Kopf. Nachdem Cal und Max Andy heute Abend aufgerieben haben, wird er ganz sicher nicht mit mir über die Schrift, Saul und seine Lügen reden wollen.
Wir waschen alle Kleidungsstücke und Decken gründlich, dann hängen wir sie ohne ein Wort zu wechseln auf die Leine.
Schließlich bricht Mara jedoch die Stille. „Ich frage mich, wo Andy hin ist.“
Ich zucke die Achseln. „Keine Ahnung. Kräfte sammeln, nehme ich an?“
„Damit sie dann ein bisschen länger brauchen bis er nur noch ein blutiges Häufchen ist?“
Ich nicke zaghaft. „Ja, sowas in der Art.“
Meine beste Freundin beißt sich auf die Lippe. „Leia... irgendetwas stimmt mit diesem Ort nicht. Er macht mir Angst.“
Ich denke an meine Konfrontation mit Saul und nicke ohne etwas zu sagen. Ich weiß ganz genau was sie meint.
-5-
IN UNSEREM Camp ist Schlafenszeit, wenn die Sonne untergeht.
Manchmal bleibe ich noch wach. Ich setze mich in die Biblio thek und lese im Kerzenlicht, aber nicht oft. Mittlerweile kenne ich die wenigen Bücher, die wir haben, schon auswendig und es ist wirklich nichts weltbewegendes dabei. Einige Bände über essbare Pflanzen, Jagdstrategien, wie man Schafe schert, Hütten baut und Fische fängt. Heute liegt eine andere Art Buch vor mir, die ich auch schon oft gelesen habe. Ein Buch, das mit ausgedachten Geschichten, sogenannten Märchen, gefüllt ist. Sogar in einer Fantasiewelt kann man den Eltern nicht trauen, wie die Geschichten von Schneewittchen und Aschenputtel uns klar machen. Die Mütter in diesen Geschichten liebten ihre Kinder auch nicht.
Ich schließe das Märchen buch mit einem Seufzen und starre auf die flackernde Kerze vor mir. Richtig zu lesen wird heute nichts. Ich bekomme die Bilder von dem Kampf von eher am Abend nicht aus dem Kopf. Von Andy, wie er von Cal Schläge einstecken muss, während Max ihn von hinten festhält. Von den Jüngeren, die alle zum Zusehen gezwungen wurden. Einige haben den Blick abgewendet. Einige waren erleichtert, dass es dieses Mal nicht sie getroffen hat.
Einige haben die Vorstellung genossen.
Mara hat Recht. Dies ist wirklich ein Ort, vor dem man sich fürchten muss.
Mein Blick wandert durch den Raum, hin zu der Tür am Ende der Biblio thek. Das ist der
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