Die Insel: (Inseltrilogie #1) (German Edition)
Raum, in dem Saul die Schrift aufbewahrt. Jede Woche holt er sie heraus, um uns bei der Versammlung auf dem Rasen vor dem Herrenhaus daraus vorzulesen.
Saul erzählt uns immer, dass jeder einzelne von uns selbst die Macht spüren muss und dass wir von niemandem abhängig sein sollten. Die Narren, von uns durch die Mauer getrennt, glauben, dass Hilfe aus der Ferne zu uns kommen wird. Dass Rettung hinter dem Horizont liegt, weit weg von unserer Insel. Deswegen verwenden sie so viel Kraft darauf, Schiffe zu bauen, und deswegen segeln so viele davon, um nie zurückzukehren. Aber wir nicht. Wir sind stark – und wir stehen jeder für sich.
Als ich mich umsehe, bemerke ich plötzlich, dass ich die einzige in der Bibliothek bin. Aber ich höre noch immer etwas. Unten, im Flur, höre ich laute Stimmen.
Neugierig schleiche ich durch den Gang und die Treppe hinunter. Jetzt kann ich schon mehr verstehen. Saul ruft etwas, wendet sich an seinen Bruder: „Halt ihn fest, Ben.“ Gefolgt von einem Grunzen, als ob Ben jemanden fest halten oder hochheben müsste. Schlurfende Füße und gemurmelte Flüche.
Nicht doch. Haben sie Andy heute nicht schon genug angetan? Ich dachte, sie hätten ihn nach dem Kampf wie einen Gefangenen zu seiner Hütte zurückgebracht, übersät mit Schürfwunden und einem blauen Auge. Mara hat mir doch gesagt, sie würde ihm später Heilsalbe vorbeibringen.
Nein, ich glaube nicht, dass das Andy ist. Die Person, die sie so mühsam zurückhalten, murmelt in einer Stimme, die viel älter klingt als die der Jugendlichen im Herrenhaus.
Ein Schauer läuft über meinen Rücken und ich bleibe wie angewurzelt auf der Treppe stehen. Ich dürfte das hier gar nicht mitkriegen – das kann ich fühlen. Und trotzdem möchte ich es sehen.
Ich schleiche mich mucksmäuschenstill die letzten Stufen hinunter und spähe um die Ecke. Dieser Teil des Hauses ist mit Fackeln an den Wänden erleuchtet, damit auch Besucher sehen können wohin sie gehen. Saul hat angeblich manchmal nächtliche Besucher – Mädchen, erzählte mir Colin, aber ich habe nie eines der Mädchen hier davon reden hören.
Ganz am Ende dieses Flurs ist ein Bierkeller. Er ist immer abgeschlossen, denn Saul meint, dass Bier immer hinter Schloss und Riegel gehört. Wir schenken Alkohol nur zu besonderen Anlässen aus – Hochzeiten und sowas. Die Herstellung ist nämlich ziemlich aufwendig.
Saul und Ben stehen an der Tür zum Bierkeller. Ben hält einen Mann aufrecht, dem Blut an der Schläfe herunter rinnt. Er hängt ganz schlapp in Bens Armen.
Wer ist er? Eines steht fest: er ist nicht aus dem Dorf. Ich habe ihn noch nie gesehen und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich alle Leute aus Newexter kenne. Das schließt auch aus, dass er ein Spion für den Ältesten ist, der im Rahmen der Intervention hier ist, die meine Mutter erwähnt hat. Das einzige, was mir sonst noch einfällt, ist, dass er ein Narr ist. Aber warum würden sie einen von ihnen bewusstlos schlagen und im Keller einsperren?
Andererseits könnte es auch sein, dass er schon verletzt war. Vielleicht haben sie ihn so gefunden. Vielleicht wollen sie ihm nur helfen.
Saul schließt die Tür mit einem kleinen, silbernen Schlüssel seines Schlüsselbundes auf. Ben schiebt den Verwundeten über die Schwelle und er fällt quasi in den dunklen Bier keller. Ohne ein weiteres Wort schlägt Saul die Tür zu und dreht den Schlüssel um.
Sieht nicht so aus, als ob sie ihm helfen würden.
„Holen wir Max“, sagt Saul zu seinem Bruder. „Ich will etwas mit euch beiden besprechen.“
Als sie sich umdrehen, verstecke ich mich, mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Bitte, bitte kommt nicht die Treppe nach oben , denke ich. Ich habe keine Ahnung, wo Max ist.
Zum Glück höre ich schon wie sich die Tür zu Sauls Zimmer mit einem dumpfen Laut schließt. Der Flur ist still. Vorsichtig spähe ich wieder um die Ecke, meine Augen auf die Kellertür gerichtet.
Mir fällt die Kinnlade runter. Saul hat den Schlüssel in der Tür vergessen. Mein Mund wird trocken als ich den alten, aufwendig dekorierten Schlüssel sehe, der in die Tür in der Bibliothek passt – für den Raum, in dem die Schrift liegt. Mein Herz schlägt schneller. Das ist die einzige Chance, die ich jemals kriegen werde, wenn ich wirklich herausfinden will, was Saul alles vor uns geheim hält.
Ich renne zur Tür, nehme den gesamten Schlüsselbund in eine Hand, damit nichts aneinander klirrt, und benutze die andere Hand, um den Schlüssel
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