Die Insel: (Inseltrilogie #1) (German Edition)
tatsächlich weg. Einen Moment lang sehe ich Punkte vor meinen Augen tanzen. Dann richtet der Junge – er sieht nicht viel älter aus als ich – den Lichtstrahl auf sein eigenes Gesicht. Das Licht wandert von seinem Kinn hinauf zum Rest seines Gesichts, verzerrt seine Züge mit scharfen Schatten. Ich hatte Recht – ich kenne ihn nicht.
„Was ist das für ein Ding?“, flüstere ich schockiert. „Und wer zur Hölle bist du?“
„Mein Name ist Walt“, antwortet er. „Die Lampe habe ich von einem der Schiffbrüchigen.“
„Schiff– was?“, nuschle ich.
„Der Mann, der an den Strand gespült wurde.“ Walt macht eine Geste in Richtung des westlichen Teils der Insel. „Auf der anderen Seite der Mauer.“
Ich gaffe Walt ungläubig an.
Er ist ein Narr. Es gibt sie also wirklich.
„Und du?“, fragt er weiter und bewegt das Licht ein wenig weg von seinem Gesicht. Jetzt erleuchtet es den Baum neben uns. Er hat sich wahrscheinlich selbst geblendet.
„Ich bin Leia“, flüstere ich zurück. „Ich wohne im Herrenhaus.“
„Du lebst auf dieser Seite der Mauer?“
„Ja.“
„Eine Ungläubige“, wispert er. „Also gibt es euch wirklich.“
Ich ziehe eine Augenbraue nach oben. Als was hat er mich gerade bezeichnet? Ich glaube an die Macht mit Herz und Seele. Er hat offensichtlich keine Ahnung, wovon er da redet.
„Ja, das habe ich auch gerade über dich gedacht“, gebe ich schnippisch zurück. „Du bist einer der Narren.“
Er schmunzelt. „Schon gut. Nennt ihr uns so?“
Ich sage nichts. Erst jetzt kommt es bei mir an wie absurd und aufregend das alles ist. Ich bin mitten im dunklen Wald und rede mit einem Narren, der über die Mauer gekommen ist. Außerdem habe ich unsere heilige Schrift gestohlen. Was kommt als nächstes?
„Hör zu“, sagt Walt, seine Stimme plötzlich angespannt. „Ich bin eigentlich hier, weil ich jemanden suche. Ein Mann, über vierzig, rotes Haar. Ist er bei deinen Leuten im Herrenhaus?“
Der Mann im Bierkeller – er hatte rotes Haar. Deswegen war ich mir so sicher, dass ich ihn nicht kenne: die einzigen beiden Menschen in Newexter mit rotem Haar sind Frauen.
„Warum?“, frage ich vorsichtig. Ich traue Saul kein bisschen, aber diesem Narren ebenso wenig. Ich betrachte sein Gesicht, das im Halbdunkel weit weniger bedrohlich wirkt als wenn es mit der merkwürdigen Lampe beleuchtet wird. Sein hellblondes Haar ist im Licht, das auf den Baum gerichtet ist, deutlich sichtbar. Oh nein... das Licht. Jemand könnte es sehen!
„Du musst sie ausmachen“, blaffe ich ihn panisch an. „Die Lampe. Sie suchen nach mir. Sie dürfen mich nicht finden.“
Walt reagiert sofort und schaltet die Lampe mit einer Art Schalter aus. „Fertig“, sagt er trocken. „Und jetzt würde ich gerne wissen, warum du vor deinen eigenen Leuten wegrennst. Ich nehme an, du hast Henry gesehen? Den Mann mit den roten Haaren?“
Ich schlucke. „Habe ich, aber das ist nicht der Grund, warum ich weglaufe.“
Walt runzelt die Stirn. „Also... warum dann?“
Nach einem Moment des Zögerns entscheide ich mich dafür, es ihm zu sagen. Ich muss es einfach loswerden. „Ich habe etwas gestohlen, dass unserem Anführer gehört.“ Eigentlich gehört es gar nicht Saul – es sollte uns allen gehören.
Walt greift im Dunkeln nach meiner Hand. „Hab keine Angst“, beruhigt er mich. „Vor mir hast du nichts zu befürchten. Ich bin der Letzte, der dich verraten würde. Also, was hast du geklaut?“
Ich kenne den Ausdruck ‚ klauen‘ nicht, aber ich verstehe, was er meint. „Ein Buch. Es enthält die Worte unserer Vorfahren. Mein Freund Andy behauptet, dass unser Anführer Saul absichtlich bestimmte Dinge in der Schrift vor uns geheim hält. Ich wollte es eigentlich gar nicht stehlen. Ich wollte es nur heimlich lesen, aber wenn ich nicht weggelaufen wäre, hätten sie mich dabei erwischt.“
„Was hast du jetzt damit vor?“, fragt Walt. „Du kannst es schlecht im Dunkeln lesen.“
„Weißt du was? Für einen Narren bist du gar nicht so dumm“, gebe ich angefressen zurück.
Walt schnaubt einmal irritiert. „Könntest du mir wohl einen Gefallen tun und aufhören, mich dumm zu nennen? Du hast keine Ahnung wie es auf der anderen Seite der Mauer zugeht. Du warst niemals dort und du kennst uns nicht.“
„Na, du weißt aber auch gar nichts über mich und meine Leute“, gebe ich zurück. „Sonst hättest du mich nicht als Ungläubige bezeichnet.“
Wir starren einander böse an, soweit
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