Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Mehrfamilienhäuser, einer Lagerhalle für Baumaterialen sowie, wie bereits erwähnt, einer kommunalen Banja, wurde die Poliklinik saniert und die Renovierung des Hotels sowie der Bau eines Sportplatzes in Angriff genommen. Die Renovierung des Verwaltungsgebäudes und des Klubs ist noch im Gange. Begünstigt wurden diese Veränderungen noch durch die Ablösung der Inselverwaltung.
Und ebenso haben das große Interesse der vielen Forscher für Kolgujew und die von ihnen in diesem einzigartigen Lebensraum realisierten Projekte das Ihre zu der einen oder anderen Veränderung beigetragen. Die Expeditionen von Biologen und Geographen (unter ihnen Pjotr Glasow, Protagonist dieses Buches) haben gezeigt, dass die von ihnen untersuchten Tundrabiozönosen durch Überweidung und Erdölförderung schwer geschädigt sind: »Durch die seit 1982 erfolgenden Schürfarbeiten kommt es kontinuierlich zu negativen Einwirkungen technogener Faktoren. Wenn die Öl-Ausbeutung im geplanten Umfang ohne Einführung neuer Arbeitsmethoden realisiert wird, steht zu erwarten, dass die kommerzielle Renhaltung zum Erliegen kommt. Der Verlust der einzigartigen Renpopulation von Kolgujew und der Untergang der traditionellen Naturnutzung durch die indigene Bevölkerung sind eine reale Gefahr …« Angeregt wurde, die Insel Kolgujew zum Vogelschutzgebiet zu erklären und in fernerer Zukunft vielleicht ganz in einen Sapowednik, ein Totalreservat, zu verwandeln.
Auf Drängen der norwegischen und finnischen Projektpartner gab es Workshops für die Hirten, in denen moderne Herstellungs- und Vermarktungsmöglichkeiten von Rentierprodukten vorgestellt wurden. Des Weiteren wurde eine Kühlanlage gekauft und am Schlachtpunkt aufgestellt. Aber wenn das Fleisch vor Ort tiefgefroren und – statt mit dem Hubschrauber – per Schiff nach Narjan-Mar transportiert werden könnte, würde das die Selbstkosten erheblich senken und folglich die Rentabilität der Fleischproduktion deutlich erhöhen.
Nicht zuletzt wurde im Rahmen von EKORA auch eine Wasseraufbereitungsanlage gekauft und an der zentralen Wasserentnahmestelle aufgestellt – aber bis heute nicht in Betrieb genommen.
2010 hat die Territorialregierung des Autonomen Gebiets der Nenzen Kolgujew zum Naturschutzgebiet erklärt und die Jagd – mit Ausnahme für die Inselbewohner – verboten.
Schlussbemerkung
.
Bei den Diskussionen, die im Rahmen des EKORA-Projekts stattfanden, sprach sich ein Teil der Inselbevölkerung dafür aus, die Siedlung komplett aufs Festland zu verlegen, dort irgendwo Häuser mit allem Komfort zu bauen und einen Betrieb für verschiedenste Formen der Renfleischverwertung aufzuziehen. Natürlich waren nicht alle Eingesessenen mit dieser Zukunftsoption einverstanden. Aber der wesentliche Kern der Sache ist ein anderer. Im gegenwärtigen russischen machtpolitischen »Getriebe« ist ein marodes Dorf, wo fortwährend etwas ausgebessert und repariert werden muss, für die Verantwortlichen der Insel wie des Autonomen Gebiets
von Vorteil
. Nichts wäre leichter, als die Menschen in ein modernes Dorf umzusiedeln, die Insel zum Sapowednik zu erklären (Kolgujew ist in der Tat ein ganz einzigartiges Vogelgebiet) und den Erdölmanagern strenge Auflagen zu machen … So wäre alles transparent und leicht kontrollierbar … Aber das brauchen die Herrschenden nicht! Was die russischen Politiker wirklich wollen, ist dies: das Dorf und die Wirtschaft in einen Zustand zu bringen, in dem niemand mehr sich von irgendetwas ein klares Bild machen kann. Diese Unordnung ist ein ausgezeichneter Deckmantel für Tatenlosigkeit und »unklar wohin« versickernde Gelder.
Deshalb wäre ich nicht überrascht, wenn trotz all der segensreichen Initiativen und Wünsche die Insel Kolgujew dasselbe Schicksal ereilen würde, das die Halbinsel Jamal bereits getroffen hat: Sie ist eine einzige Müllhalde für Altmetall und Chemieabfälle; 90% der Rentierweideplätze sind irreversibel geschädigt und die kommerzielle Renhaltung geht gegen Null. Auch wenn die Ölvorkommen auf Kolgujew begrenzt sind, so kann sich die Insel in 25-30 Jahren, wenn die Reserven erschöpft sind, doch in eine »tote« Insel verwandelt haben.
Wassili Golowanow
Quellenangaben
Jorge Luis Borges, »Die Zeit«, in:
Gesammelte Werke
, Band 5/II, Essays 1952-1979, übers. von Gisbert Haefs, Carl Hanser Verlag, München, Wien, 1981, S. 284.
Marco Polo,
Il Millione. Die Wunder der Welt
, übers. von Elise Guignard, Manesse Verlag, Zürich, 1983, S.
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