Die Inszenierung (German Edition)
Frauen, feinste, erlesenste, großartige Persönlichkeiten – beim GV sind sie Masse. Es gibt nichts Unpersönlicheres als den GV.
Längeres Schweigen. Augustus zeigt Interesse.
Auch du bist persönlich an nichts so wenig beteiligt wie am GV. Du bist beim GV nichts als der Funktionär des Geschlechts. Ich kenne die Hilfskonstruktionen, mit denen man vor sich selbst verbergen will, dass die uns am meisten beschäftigende Handlung auch die unpersönlichste ist. Das Un-Ganzsein der Individualität. Das Charisma der Agape. Oder wie Plato erzählt: Zuerst ein Doppelgeschlecht, dann entzweigeschnitten, dann sehnen sich die Teile zu einander, sind voller Begierde, wieder zusammenzuwachsen. Tausend solche Märchen, um die GV-Realität zu verklären. Die Nivellierung bis zur Unterschiedslosigkeit … Hörst du mir noch zu?
Entschuldige. Ich weiß immer noch nicht, wie Nina reagieren soll auf Trigorin. Entschuldige. Ich bin wieder ganz da!
Tausend Märchen, um die GV-Realität zu verklären. Die Nivellierung bis zur Unterschiedslosigkeit, die außerhalb des GVs durch alles Erdenkliche verborgen, verheimlicht, verleugnet wird. Der GV ist also ein Geschehen, dem wir unter keinen Umständen als eben unter denen des GVs entsprechen wollen und können. Die Natur will das so, die will das immer noch so. Die ganze Kultur nichts als ein Überbau, um zu verbergen, was uns das Wichtigste ist. Nämlich: keine Persönlichkeit XY zu sein, sondern ein GV-Partner, der es bringt, eine GV-Partnerin, die es bringt. Jetzt, Augustus, habe ich mich erinnert an die erste Inszenierung von dir, die ich sah. Ich war Ende zwanzig.
Maß für Maß.
Gut! In?
Wuppertal.
Sehr gut.
Ein schlimmes Stück. Das kleinste Einmaleins der Moral.
Und doch der unendliche Shakespeare. Moment.
Sie drückt auf ihrem Handy eine Nummer.
Ja, Lydia. Ja, ich bin’s. Ich komme eine … halbe Stunde später. Eingetragen ist nur Enrico. Er wird’s verstehen. Bis gleich. Ein Stück von elementarer Richtigkeit. Dagegen ist Romeo und Julia eine Schnulze.
Shakespeare rotiert im Grab! Ich hätt’s nicht machen sollen.
Weißt du noch die Handlung?
Wie alles, was ich leiden musste, hat sie sich eingeprägt.
Der Herzog …
Sie gibt ihm Gelegenheit, fortzufahren.
Der Herzog will Urlaub machen. Angelo, sein Statthalter, soll regieren. Und tut’s gleich so streng wie möglich. Frischt ein sinnloses altes Gesetz auf, das ihm erlaubt, den jungen Claudio zum Tod zu verurteilen. Aber Isabella, Claudios Schwester, die gerade Nonne werden will, geht zu Angelo, bittet um Gnade für ihren Bruder. Ja, wenn sie mit Angelo schläft, ist der Bruder frei. Das kann sie nicht. Sie schaltet Mariana ein. Die war Angelos Verlobte, er ließ sie vor fünf Jahren schmählich sitzen. Isabella arrangiert die GV-Szene im nächtlichen Gartenhaus. Angelo kommt, schläft, glaubt er, mit Isabella, in Wirklichkeit aber mit der schmählich verlassenen Mariana.
Das reicht. Der Rest ist Drama. Shakespeare macht es Spaß, die Bibel anklingen zu lassen. Und Adam erkannte sein Weib Eva. Und sie ward schwanger. Mariana schwört nach diesem GV: Ich hab erkannt ihn, doch mein Mann erkennt nicht, dass er mich je erkannt. Das schwört sie, weil Angelo schwört, dass er Mariana weder sah noch hörte. So viel zur Nähe durch GV. Und dass man das erkennen nannte, sagt, womit wir’s zu tun haben: GV-Verklärung. Zwei Geschlechtsteile begegnen einander. Dass sie dem Fortpflanzungsbefehl gehorchen, wissen sie nicht mehr. So wenig wie Romeo und Julia. Und das ist dein Job. Die Propagierung der Verklärung. Die Hypersensibilisierung erogener Zonen hat mit Liebe so viel zu tun wie der Mond mit den an ihn adressierten Gedichten.
Wenn ich ihre Brustwarzen berühre, erleidet sie, was du Orgasmus nennst. Und was sie da mitreißt, fortreißt, hinreißt, dass sie nämlich schreien müsste, das muss sie in einem Kissen ersticken. Das darf ja nicht sein, dass ein Mensch aus reiner Lust schreit.
Und dass ihr das bei einem anderen kein bisschen anders geht, ist dir egal.
Aber in diesem Augenblick bin es doch ich, der schuld ist an dieser schönsten Raserei. Entschuldige, Gerda. Wir nehmen jetzt alles zu ernst. Weißt du noch, wer den bösen Angelo spielte? Stallhofer! Wir waren beide gleich jung, gleich ehrgeizig. Und er gab einen perfekt bösen, geschmeidig bösen, souverän bösen, temperaturlos bösen Angelo. Und ich wollte einen unglücklich-bösen, einen hilflos-bösen, einen traurig-bösen Angelo. Stallhofer
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