Die Inszenierung (German Edition)
Geschichte, wie er zur ersten Nathan-Probe erschienen ist, den Nathan-Text perfekt drauf hatte, weil er geglaubt hatte, er spiele den Nathan, aber besetzt war er nur als Tempelherr. Alle lachten, auch die von der Technik am Nebentisch, bis auf einen Beleuchter, der sah mich finster an. Den habe ich mir gemerkt. Der war von Stallhofer gekauft. Der hat das Stallhofer berichtet. Ich habe später sogar Sachen gesagt, die er Stallhofer weitersagen sollte! Das hat funktioniert. Dass ich diese Geschichte in der Kantine erzählt habe, zeigt, dass ich kein Regisseur bin.
Wenn jemand kein Regisseur ist, dann ich.
Einigen wir uns: Kein Mensch IST ein Regisseur.
Du hast leicht reden. Gut Nacht, Augustus. Verzeih!
Du mir! Gut Nacht!
Gut Nacht.
Du wirst von mir hören. Badenweiler!
Sie verabschieden sich mit Gesten der Zärtlichkeit. Aber sie kommt noch einmal herein.
Verzeih!
Sie hat den Brief in ihrer Tasche vergessen. Den gibt sie ihm. Und geht.
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9
Augustus hängt die Regiejacke in den Schrank und legt den Hut dazu, legt sich ins Bett, stellt den Kopfkeil mit einem Knopfdruck steiler, dann liest er den Brief, wie er den ersten gelesen hat: mit mitsprechenden Lippen.
Lieber Herzensfreund,
fürchte nicht, dass Du jetzt meine Klagemauer wirst. Zuzugeben ist, dass ich, was mir passiert, nicht im stummen Selbstgespräch ablaufen lassen kann. Ich bin Platon-Schüler. Was bleibt von dem, was mir passiert, wenn ich es der direkten Rede aussetze!
Lieber Augustus, Berti kommt nicht. Konkav-Konvex ist auseinander. Wenn Ursula das wollte, hat sie jetzt erreicht, was sie wollte. Obwohl ich ihr so viel Planfähigkeit nicht unterstellen will. Sie hat auch nur reagiert. Dann habe ich reagieren müssen. Jetzt hat Berti reagiert.
Seine Mutter müsste, wenn er Deutschland verlässt, ins Altenheim. Und das war immer Bertis und seiner Mutter Unwort: Altenheim. Er sieht das so: Ich habe ihn verlassen. Ich habe mich von Ursula in eine bürgerliche Panik stürzen lassen. Anstatt mich endlich zu bekennen, habe ich ihr durch mein Doppelleben alle Trümpfe in die Hand gespielt. Ich bin abgehauen. Ich bin aus dem Haus in Starnberg, das auch mein Haus war, wie ein Ertappter geflohen. Ich habe, um Ursulas bürgerlichen Ruf zu schonen, meinen eigenen jedem Gerücht preisgegeben. Usw. Was Berti nicht sieht, nicht ermessen kann: Ursulas Enttäuschung. Die Wucht dieser Enttäuschung. Die alles zerstörende, nichts übrig lassende Wucht dieser Enttäuschung. Betrug in einem Ausmaß ohne Vergleich. So etwas hat es noch nicht gegeben. Mit nichts vergleichbar. Ausgelöscht wird jede Sekunde unserer Ehejahre. Hereingelegt wurde sie Tag und Nacht und Jahr für Jahr. Und gestern Abend bei Esther und Art Dickinson gab es nur EIN Thema: double life. Esther Dickinson ist Politikerin. Bei den letzten Wahlen dirigierte sie die Kampagne in Maryland. Zu fragen, für welche Partei, wäre eine Beleidigung gewesen. Tatsächlich interessiert es mich auch nicht. Das von Esther intonierte und den Abend lang durchgehaltene Thema war eben: leading a double life. Die Leute, die mir mit so etwas kommen, wissen ja nicht, dass sie im Auftrag höchster Moralkontrolle agieren. Das strotzend reiche Englisch bietet dafür zehnmal so viel wie unser Schlichtdeutsch. Jedesmal wenn Esther ihr Berufsthema streifte, flocht Art ein: You’ve done a hell of a job. Er wollte sie offenbar auf ihr Berufsfeld lenken, aber sie war schon wieder bei double crosser, double dealer und anderer doubleness. Sie ist klein, aber fest. Er ist riesig, aber lotterig. Beide haben die Haare so kurz wie möglich geschnitten. Einmal sagte er noch sehr deutlich, Esther sei an ardent collector of dolls. She’s planning to create dolls and perhaps market them. Esther durfte sich, von höchster Moralinstanz beauftragt, nicht ablenken lassen. Sie sei eine Migränefrau, und Migränefrauen seien gesegnet und geschlagen mit einer Empfindlichkeit, die auch auf die geringste Spur von Doppelleben sofort mit Alarm reagieren muss. Egal, ob es sich da um Gedanken, Gefühle oder Objekte handle. Alles, was vor einer Migränefrau verheimlicht wird, entdeckt sie, weil es ihr verheimlicht wird! Zum Glück fragte Esther nicht, ob meine Frau eine Migränefrau sei. Ursula ist eine. Jeder Föhneinbruch eine Folter. Hier zu sagen, Ursula habe zwei Jahrzehnte lang nichts entdeckt, wäre eine Geschmacklosigkeit gewesen. Ich hätte sagen müssen: Solange eine Frau erlebt, dass man sie liebt, ist sie überhaupt
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