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Die Inszenierung (German Edition)

Die Inszenierung (German Edition)

Titel: Die Inszenierung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Und wenn wir das getan haben, dann hören wir auch so auf, wie wir gespielt haben: Bei uns kommt am Ende nicht der Arzt herein und meldet, dass Konstantin Gawrilowitsch sich erschossen hat! Dann hätten wir ja ganz umsonst gespielt. Bei uns kommt Kostja selber herein, schießt in die Luft und ruft: Konstantin Gawrilowitsch hat sich erschossen. Wenn uns das nicht überzeugend gelingt, dann müssen wir gar nicht erst anfangen. Das heißt: Leute, hier wird gespielt! Ernst ist es nur bei euch, die ihr jetzt vor unserer Bühne sitzt. Und weil es bei euch so unermesslich ernst ist, darum haben wir gespielt. Verstehst du. Ich zeig es dir.
    Er holt die Pistole aus der Schublade.
    Verstehst du: Wenn ich in dem Augenblick, der darüber entscheidet, wie ernst diese Komödie ist, wenn ich da auf die Imitation verzichte und in die Luft schieße und rufe: Kostja hat sich umgebracht, dann sind wir nicht die blöden Vormacher und Schicksalsimitatoren, dann sind wir und das Publikum in ein und demselben Stück.
    Sie nimmt ihm die Pistole aus der Hand, weil er in seiner Begeisterung vielleicht doch geschossen hätte.
    Und ich habe dir immer noch nicht gemeldet, dass Stallhofer sich geweigert hat, als Trigorin so herumzulaufen, wie du es vorgeschlagen hast.
    Wie Tschechow es befohlen hat. Wie Stanislawski berichtet. Das hättest du dem Staatsschauspieler berichten können. Stanislawski, der ja selber Trigorin gespielt hat, von Kopf bis Fuß in Weiß, eine vor Eleganz blendende Erscheinung, der musste dann, auf Tschechows Kommando, zerlumpte karierte Hosen und alte ausgetretene Schuhe anziehen.
    Stallhofer will als Phileas Fogg auftreten. Er hat im Fundus das Kostüm entdeckt von In 80 Tagen um die Erde …
    Hör auf, hör auf, hör auf.
    Augustus! Ich komme mir vor wie eine Kriegsberichterstatterin, die zu berichten hat nur von verlorenen Schlachten!
    Jede verlorene Schlacht trägt einen Sieg im Bauch!
    Bei Corinna, durch den Schlag an den Hals, den ihr Stallhofer versetzt hat, jetzt ist ihre Zyste an ihrer Schilddrüse wieder geschwollen. Sie muss wieder punktiert werden. Operieren geht nicht. Wegen Narben. Und, Augustus, sie ist ausgestiegen. Sie hat vor Stallhofer nur noch Angst, sagt sie.
    Lydia! Geschenkt, geschenkt, geschenkt! Ich habe eine Nina, sozusagen: wie sie im Buche steht.
    Und Stallhofer ist auch raus. Und alle anderen auch. Ich habe es nicht geschafft, Augustus. Ich bin keine Regisseurin. Die Inszenierung ist futsch. Schlag mich tot.
    Pause.
    Augustus geht zum Spiegel, schaut sich an. Geht zum Schrank, holt den hellsten Morgenmantel heraus, zieht ihn an, geht wieder vor den Spiegel. Dann zu Lydia.
    Lydia, Herzensfreundin, von allen Lieben die Liebste! Besser kann es doch gar nicht kommen. Ich inszeniere die Möwe, wie sie noch nie inszeniert worden ist. Du weißt, der zu Herzen gehende Dramatiker Tennessee Williams hat aus der Möwe ein Stück gemacht, das er Notebook of Trigorin nannte! Ich mache daraus das Schauspiel vom Unglücksglück. Frei nach Anton Pawlowitsch Tschechow. Und brauche dazu nur zwei Darsteller: Ute-Marie Wiese und Augustus Baum. Premiere im frühen Sommer. In einem noch zu gründenden Sommertheater. In Badenweiler. Da, wo Anton Pawlowitsch gestorben ist. Vierundvierzigjährig! Da führen wir seine innigsten Unglückstöne auf. Und zeigen, was für einen Wert ein Mensch hat, wenn er liebt. Wenn er noch liebt! Dadurch, dass er liebt.
    Ich bin dabei, Augustus.
    Du bist dabei, Lydia.
    Ach, und es gab so tolle Momente, Augustus. Vorgestern, als Sorins Rollstuhl, weil er nicht arretiert ist, von hinten nach vorne rollt und gleich in den Orchestergraben stürzen wird. Wie da alle plötzlich zuschauen mit offenem Mund und hilflosen Armen, keiner rennt hin und stoppt das Ding, das dann tatsächlich von dem dort noch liegenden Stock des Arztes gestoppt wird. Das war ein Augenblick, Augustus.
    Augustus hat sich, was sie erzählte, notiert.
    Was notierst du denn jetzt noch?
    So muss Nina stehen, wenn sie sagt: Um Schauspielerin zu werden, nimmt sie alles in Kauf, starr, hilflos, sie kann der Zukunft nicht entgehen.
    Ich habe mich einfach nicht durchgesetzt. Hier sind immer alle viel zu nett zu einander! Ich habe mich nicht durchgesetzt!
    Sie weint. Sie sucht seine Nähe.
    Ich! Lydia! Nur ich habe Mist gebaut! In der Kantine, nach der ersten Leseprobe, Stallhofer war schon weg. Wir amüsierten uns darüber, dass er immer mit perfekter Textbeherrschung zur ersten Leseprobe kommt, und ich erzählte die

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