Die irische Signora
rüstige Siebenundsiebzigjährige erblickte. Sie trug ein braunes Kleid und eine braune Strickjacke darüber. Ihr Haar hatte sie, wie eh und je, zu einem altmodischen Knoten aufgesteckt. »Sie würde ganz hübsch aussehen, wenn sie nicht so eine strenge Frisur hätte«, hatte Mario damals gesagt.
Man stelle sich einmal vor, daß ihre Mutter damals nur wenig älter gewesen war als sie heute! Und doch war sie so unerbittlich gewesen, so festgefahren in ihren Ansichten und hatte sich bereitwillig religiösen Normen gefügt, obwohl sie nicht wirklich gläubig war. Wenn ihre Mutter damals für sie eingetreten wäre, lägen die Dinge jetzt anders. Dann wäre die Signora über all die Jahre hinweg mit ihrer Familie in Verbindung geblieben, sie hätte gewußt, daß sie zu Hause willkommen war, und wäre jetzt wahrscheinlich freudig zurückgekehrt, um sich um die Eltern zu kümmern, selbst auf dem Hof, den sie so ungern verlassen hatten.
Aber so? Die beiden waren nur wenige Schritte von ihr entfernt … wenn sie gerufen hätte, hätten sie sich umgedreht.
Die Signora sah, wie Ritas Haltung noch steifer wurde, als ihre Mutter vor sich hinzuschimpfen begann: »Schon gut, schon gut. Ich steig ja schon ein, kein Grund, mich zu hetzen. Eines Tages wirst du auch mal alt sein, denk daran.« Die beiden freuten sich nicht, einander zu sehen, man spürte nicht den Hauch von Dankbarkeit, obwohl Mutter doch abgeholt und ins Krankenhaus gefahren wurde. Kein Mitgefühl verband diese beiden Frauen, die einen alten Mann besuchen fuhren, der nicht mehr zu Hause leben konnte.
Heute war wohl Rita dran, morgen wahrscheinlich Helen, und ihre Schwägerinnen waren wohl ebenfalls für freudlose Fahrten und andere Aufgaben eingeteilt. Kein Wunder, daß sie die Verrückte aus Italien hatten zurückholen wollen. Als der Wagen an ihr vorbeibrauste, sah sie die beiden Frauen schmallippig und schweigsam nebeneinandersitzen. Wo hatte sie nur so innig lieben gelernt, fragte sich die Signora, da sie doch aus einer zutiefst lieblosen Familie stammte? Beim Anblick ihrer Mutter und ihrer Schwester hatte sie tatsächlich eine Entscheidung getroffen. Hocherhobenen Hauptes verließ die Signora die gepflegte Grünanlage. Jetzt war sie sich sicher. Und es würden sie weder Zweifel noch Schuldgefühle plagen.
Was die Arbeitssuche anging, war dieser Nachmittag genauso unergiebig wie der gestrige. Doch die Signora wollte sich davon nicht entmutigen lassen. Als sie wieder am Liffey vorbeikam, betrat sie kurz entschlossen das Café, in dem Suzi arbeitete. Erfreut sah das Mädchen auf.
»Sie sind tatsächlich hingegangen! Meine Mam hat mir erzählt, daß sie zu einer Untermieterin gekommen ist wie die Jungfrau zum Kind.«
»Ich habe es sehr gut getroffen. Und dafür wollte ich mich bedanken.«
»Nun, es ist wirklich nichts Besonderes, aber fürs erste wird es wohl gehen.«
»Ich kann von Ihrem Zimmer aus die Berge sehen.«
»Ja, und ein paar Hektar Ödland, die nur darauf warten, umgegraben und mit weiteren Wohnklos bebaut zu werden.«
»Es ist genau das Richtige für mich. Nochmals vielen Dank.«
»Meine Eltern halten Sie für eine Nonne. Stimmt das?«
»Nein, nein, eher das Gegenteil.«
»Mam sagt, Ihr Mann sei gestorben?«
»Nun, gewissermaßen ja.«
»Er ist in gewissem Sinn tot für Sie … meinen Sie das?«
Gelassen sah die Signora sie an; es war unschwer zu erkennen, warum manche Leute sie für eine Nonne hielten. »Nein, er war
gewissermaßen
mein Mann, aber ich sah keinen Grund, das deinen Eltern lang und breit auseinanderzusetzen.«
»Dafür gibt es auch keinen Grund. Es ist besser so«, nickte Suzi und goß ihr eine Tasse Kaffee ein. »Auf Kosten des Hauses«, flüsterte sie.
Die Signora lächelte still in sich hinein. Wenn sie es weiterhin so geschickt anstellte, würde sie bald überall in Dublin kostenlos zu Speis und Trank kommen. »Gestern habe ich schon umsonst im Quentin’s gegessen, ich hab’s wirklich gut«, vertraute sie Suzi an.
»Dort würde ich liebend gern arbeiten«, seufzte Suzi. »In schwarzen Hosen wie die Kellner. Außer Ms. Brennan wäre ich dann die einzige Frau dort.«
»Sie kennen Ms. Brennan?«
»Sie ist eine lebende Legende. Am liebsten würde ich drei Jahre dort arbeiten und alles lernen, was man wissen muß. Dann könnte ich mein eigenes Restaurant eröffnen.«
Der Signora entfuhr ein neidischer Seufzer. Wie herrlich, wenn man solche Möglichkeiten vor Augen hatte, statt sich weiteren Ablehnungen als
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