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Die irische Signora

Die irische Signora

Titel: Die irische Signora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maeve Binchy
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ausgefallene Farbe, die an eine alten, grau gewordenen Fuchs erinnern würde«, antwortete die Signora, offenbar nicht im mindesten gekränkt von Jerrys Frage oder dem Urteil der jungen Friseusen.
     
    Es schmeichelte ihr sehr, daß alle so begeistert von ihrer Handarbeit waren. Man bewunderte die raffinierte Stickerei und das phantasievolle Zusammenspiel der Ortsnamen mit dem Blumenmuster. Doch niemand hatte Arbeit für sie. Man bot ihr oft an, sie in eine Kartei aufzunehmen, und mehr als einmal reagierte man überrascht, als die Signora ihre Adresse nannte. Anscheinend hatte man sie in einer eleganteren Wohngegend vermutet. So gab es letztlich auch an diesem Tag nur Absagen, aber man behandelte sie respektvoller und musterte sie nicht mit diesem befremdeten Gesichtsausdruck. Designermodegeschäfte, Boutiquen und zwei Kostümbildnereien hatten ihre Arbeit mit ehrlichem Interesse begutachtet. Suzi hatte recht gehabt, daß sie nach Höherem streben sollte.
    Sollte sie vielleicht doch versuchen, als Fremdenführerin oder Lehrerin unterzukommen? Schließlich hatte sie damit in Sizilien mehr als ihr halbes Erwachsenenleben lang einen Großteil ihres Lebensunterhaltes bestritten.
     
    Sie machte es sich zur Gewohnheit, abends mit Jerry zu plaudern.
    Normalerweise klopfte er an ihre Tür. »Störe ich, Mrs. Signora?«
    »Nein, komm ruhig herein, Jerry. Es ist schön, Gesellschaft zu haben.«
    »Sie können jederzeit runterkommen, das wissen Sie. Es würde keinem was ausmachen.«
    »Nein, lieber nicht. Ich habe von deinen Eltern ein Zimmer gemietet und möchte, daß sie mich gerne hier haben. Da will ich mich nicht aufdrängen.«
    »Was tun Sie da, Mrs. Signora?«
    »Ich nähe Babykleidchen für eine Boutique. Sie wollen vier davon, und die Kleider müssen sehr schön werden. Denn ich habe für das Material auf meine Ersparnisse zurückgegriffen und kann es mir nicht leisten, daß sie womöglich einen Rückzieher machen.«
    »Sind Sie arm, Mrs. Signora?«
    »Nein, nicht wirklich arm, aber ich habe wenig Geld.« Das schien eine vernünftige Antwort zu sein, und Jerry gab sich damit zufrieden. »Warum machst du deine Hausaufgaben nicht hier bei mir?« schlug sie vor. »Dann leistest du mir Gesellschaft, und ich kann dir vielleicht ein bißchen dabei helfen.«
     
    So verbrachten sie den ganzen Mai, sie saßen beisammen und unterhielten sich. Jerry hatte der Signora geraten, gleich fünf Kleidchen zu nähen und so zu tun, als ob die Boutique ihres Wissens fünf bestellt hätte. Das war ein guter Rat gewesen, sie hatten alle fünf genommen und wollten sogar noch mehr.
    Die Signora zeigte großes Interesse an Jerrys Hausaufgaben. »Lies mir das Gedicht [1] noch einmal vor, damit wir herausbekommen, was es bedeutet.«
    »Es ist bloß ein altes Gedicht, Mrs. Signora.«
    »Ich weiß, aber es muß eine Bedeutung haben. Laß uns darüber nachdenken.« Gemeinsam rezitierten sie: »›Und neun Reihn Bohnen habe‹ … Warum ausgerechnet neun?«
    »Er war bloß so’n oller Dichter, Signora. Ich glaub nicht, daß er was damit gemeint hat.«
    »›Allein in bienendurchsummter Au.‹ Stell dir das einmal vor, Jerry. Er wollte einfach nur das Summen der Bienen um sich herum hören, ihm gefiel der Lärm der Stadt nicht.«
    »Na ja, er war ziemlich alt«, erklärte Jerry.
    »Wer?«
    »Na, Yeats. Der das Gedicht geschrieben hat.«
     
    Und ganz allmählich brachte sie Jerry dazu, sich für seine Schulfächer zu interessieren.
    Unter dem Vorwand, ein schlechtes Gedächtnis zu haben, ließ sie sich von Jerry immer wieder die Gedichte vortragen, während sie über ihren Näharbeiten saß. In ihrem Beisein schrieb er auch seine Hausaufsätze und erledigte seine Mathematikaufgaben. Das einzige, was ihn schon immer ein bißchen interessiert hatte, war Erdkunde. Das hatte mit seinem Lehrer zu tun, Mr. O’Brien, der anscheinend ein prima Kerl war. Wenn Mr. O’Brien von Flußbetten und Gesteinsschichten oder Erosionen und solchen Sachen sprach, schien er stets zu erwarten, daß man wußte, wovon die Rede war. Die anderen Lehrer glaubten dagegen immer, daß man von rein gar nichts eine Ahnung hatte, das war der Unterschied.
    »Und er wird Schuldirektor, nächstes Jahr«, erklärte Jerry.
    »Aha. Sind die anderen am Mountainview damit einverstanden?«
    »Tja, ich denke schon. Der alte Walsh war ein fürchterlicher Kotzbrocken.«
    Die Signora schaute ihn verständnislos an, als ob sie dieses Wort noch nie gehört hätte. Es klappte

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