Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
schwacher Lichtschein fiel herein. Einen Meter vor dem Fenster ragte die Wand des Parkhauses auf, mit dem der Innenhof des Blocks zugebaut ist. Gabriels Abwesenheit ließ sich überall in der Wohnung spüren, zumal sämtliche Möbel unter einer ätherischen Staubschicht lagen, doch mir schien der Anblick weder deprimierend noch bedauernswert. Es herrschte nicht die gelähmte, starre Atmosphäre, die sich der Gegenstände eines Hauses bemächtigt, wenn der Bewohner plötzlich gestorben ist, sondern alles wirkte wie ein Stillleben, wie eine genau durchdachte Komposition. Auf dem Esstisch erwartete ein Dutzend Nüsse in einem Palmenkörbchen ihr Schicksal, wobei ihnen ihr Henker Gesellschaft leistete, und daneben sehnten sich eine französische Streichholzschachtel und eine halb abgebrannte Kerze im Hals einer Colaflasche nach den Nächten ohne Licht. Ein Schuhlöffel aus rostfreiem Stahl hielt seit einer Ewigkeit sein Gleichgewicht auf der Armlehne eines schwarzen Kunstledersessels. Eine Wanduhr, stehen geblieben um drei Minuten nach eins, hatte es satt, aus eigener Kraft zweimal täglich um ihr Zifferblatt zu laufen, und bat schweigend darum, dass jemand sie aufzog.
Ich erwähne diese oberflächlichen Einzelheiten – und ich könnte noch viel mehr davon auflisten –, um einen Eindruck von der Apathie zu vermitteln, die die ganze Wohnung ausstrahlte. Während ich durch die Zimmer ging, ohne etwas zu berühren, dachte ich: Ganz so, wie der Vater selbst war, ganz so, wie meine Mutter und ich ihn gekannt hatten; wenn etwas deutlich wird, dann nichts Wichtiges oder Erhellendes. Mir ging noch ein Ausdruck durch den Kopf, der hier gewiss übertrieben ist, aber ich will ihn trotzdem hinschreiben: lebendig begraben.
Ich hatte nun die Lust verloren, war im Begriff zu gehen, die Tür hinter mir abzuschließen und die Sache auf sich beruhen zu lassen. Da fiel mir wieder der Zettel ein, den die Polizei auf dem Nachttisch gefunden hatte, und plötzlich erschien er mir wie eine Aufforderung zum Herumschnüffeln. Warum diese Liste mit vier Varianten eines Vornamens, Cristòfol, Christophe, Christopher, Christof, mit jeweils einem Nachnamen dazu? Und warum war ich der Erste auf der Liste?
Ich ging ins Schlafzimmer, zog die Nachttischschubladen auf und fand nichts Interessantes. Neben dem Bett stand ein dreitüriger, verspiegelter Wandschrank. Hinter der ersten Tür mehrere Fächer voller Handtücher und Bettzeug. Ich tastete, ob zwischen der Wäsche etwas versteckt war, das ist ja nicht unüblich, aber ich brachte nur zwei Lavendelsäckchen zutage, die ihren Duft verloren hatten. Hinter der zweiten Tür befand sich Kleidung des Vaters. Eine Sammlung von Hemden, Pullovern, Sakkos und Hosen, das meiste schon sehr alt, hing hoffnungslos von der Stange. Einige hölzerne Bügel, nackt wie entfleischte Schlüsselbeine, erweckten den Eindruck, der Vater habe beim Aufbruch nicht viel zum Anziehen mitgenommen. Am Boden des Schranks verkümmerten mehrere Paar Schuhe. Ich strich mit der Hand über die Kleidung, als wollte ich sie trösten, und im letzten Moment fiel mir eine Jacke auf. Eine alte Wende-Lederjacke mit abgeriebenen Ellenbogen. Ich erinnerte mich, dass der Vater sie oft getragen hatte, wenn er uns besuchte. Ich nahm sie vom Bügel, um sie mir genauer anzusehen und auch, wie als Kind, daran zu riechen. Doch als ich sie mir an die Nase hielt, fiel etwas heraus. Ein Stückchen Pappe. Ich bückte mich danach und wunderte mich: Es war eine Karte aus einem Pokerspiel, das Kreuz-Ass. Ich steckte es mir in die Tasche und wollte die Jacke zurück in den Schrank hängen. Doch als ich sie mit einer etwas ruppigen Bewegung zwischen die anderen Kleider quetschte, fiel wieder eine Spielkarte zu Boden, diesmal aus einem Sakko. Der Herz-König. Nun griff ich mir mit beiden Händen vier oder fünf Stücke auf einmal, schüttelte sie, und es erschienen noch mehr Karten. Ich sammelte sie ein, alles Könige und Asse, Damen und Buben. Manche wiederholten sich. Also zog ich eine weitere Jacke aus dem Schrank, diesmal ganz vorsichtig, und krempelte die Ärmel um. Im linken war der Saum vorsichtig aufgetrennt worden, und zwischen Futter und Stoff lebte, stolz und schicksalsergeben, ein Karo-König im Exil.
Die Entdeckung faszinierte mich derart, dass ich nun doch beschloss, meinen Vater zu finden. Um jeden Preis. Systematisch begann ich alle Schränke, Regale und Schubladen in der Wohnung abzusuchen. So hättet ihr es doch an meiner Stelle auch
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