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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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erste Märtyrer war und zu Tode gesteinigt wurde …, dieses für Sankt Cosmas und Sankt Damian, Zwillingsbrüder, die enthauptet wurden …, dieses für die heilige Engratia, Schutzpatronin von Zaragoza, die man, an ein Pferd gebunden, durch die ganze Stadt schleifen ließ …«
    Der Singsang hatte sich dem Vater tief ins Gedächtnis eingebrannt und ebenso die seltsame Verbindung, die er zwischen dem Essen und den grausamen Märtyrertoden stiftete.
    Nachmittags las eine der frommen Schwestern Auszüge aus dem Katechismus vor, und die Zöglinge mussten sie auswendig lernen. Zwar konnten die Nonnen durchaus mütterliche Zuneigung zu ihnen fassen, vor allem, wenn sie schon als Kleinkinder ins Waisenhaus kamen, aber es herrschte strenge Disziplin. An Strafen, Drohungen und Gardinenpredigten wurde nicht gespart. Die Kinder fanden dennoch immer wieder Wege, sich auszutoben. In Gabriels Erinnerung fühlte sich das Heim Jahre später wie ein Fegefeuer an; ein mildes Fegefeuer, denn die Hölle trug für die kleinen Insassen damals den Namen Asyl Duran. Waren sie im Begriff, Unfug zu machen – oder eine Scheußlichkeit zu begehen, wie die Nonnen sagten –, so reichte die bloße Erwähnung dieser Besserungsanstalt im Norden der Stadt, um sie vor Furcht erstarren zu lassen. In der Hölle des Asyl Duran, so hieß es, würden die Kinder nachts ans Bett gefesselt, damit sie nicht ausbüchsen konnten, und trugen die Köpfe kahl rasiert, zur Vorbeugung gegen Läuse. Einer der Gärtner, die sich um die Gemüsebeete der Casa de la Caritat kümmerten, war für die finstersten Schauermärchen zuständig. Kamen ein paar Kinder beim Versteckspiel seinen Pflanzen zu nahe, dann griff er sie sich und stauchte sie zusammen: Im Asyl Duran – wo sie enden würden, wenn sie nicht artig wären – müssten Kinder, die im Gemüse herumtrampelten, zur Strafe jeden Tag Ratten und Kakerlaken essen und sie zuvor eigenhändig in den Kellern und Abwasserrohren des Gebäudes einfangen.
    Der Lauf der Zeit verformt unweigerlich die Realität. In seiner Eigenschaft als Professor der Quantenphysik besteht Christophe darauf, dass wir diesen Satz hier festhalten: Der Lauf der Zeit verformt unweigerlich die Realität . Die acht Jahre, die Gabriel in der Casa de la Caritat verbrachte, stapelten sich schlecht getarnt in einer dunklen Ecke seines Gedächtnisses, als gehorchten sie zwar dem Befehl, nicht aufzufallen, als sträubten sie sich aber dagegen, ganz vergessen zu werden. Immer seltener kam es vor, dass ein Bild oder eine Szene von damals ihm wieder vor Augen trat. Sein zehnter Geburtstag, als die älteren Jungen ihn um Mitternacht entführten und ihn zum ersten Mal ins kleine Museum des Heims brachten, um ihm dort ein fluoreszierendes menschliches Skelett zu zeigen (»Und ob es sich bewegt hat! Wenn du genau hinschaust, siehst du, dass es lacht«). Die gekünstelte Warmherzigkeit, in die jedes Jahr zu Weihnachten alles verfiel, wenn irgendein Behördenvertreter kam und Geschenke brachte und sich die Ordensschwestern, die Lehrer und sogar der Gärtner vermeintlich alle Mühe geben mussten, vor den Kindern etwas sehr Trauriges zu verheimlichen und in der Öffentlichkeit die Tränen zurückzuhalten. Als Gabriel jung war, hatten ihn solche Erinnerungen oft ohne Vorwarnung und gegen seinen Willen heimgesucht, doch nach und nach lernten sie, nicht zu stören. Nur ein paar wenige Episoden waren ganz lebendig geblieben, und zwar die, an die er mit Bundó gemeinsam zurückdachte, wenn sie im Lkw saßen. Sie wärmten sie in regelmäßigen Abständen auf, den Anstoß gab immer irgendein Ereignis auf der Fahrt (ein Lied im Radio, ein Ortsname, eine Werbetafel am Straßenrand), und sie hatten es eingeübt, sich beim Erzählen abzuwechseln. Beide fügten sie dabei immer neue Details hinzu und erlaubten sich kleine Variationen. Das unverdrossene Wiederkäuen konnte Petroli zur Verzweiflung bringen. Da er ein besseres Gedächtnis hatte als seine Kollegen, fiel ihm jede Abweichung sofort auf, aber wenn er sich einmischte, schnitten sie ihm gleich das Wort ab: was er denn zu wissen glaube, er sei doch nie in der Casa de la Caritat gewesen. Petroli war ein gutmütiger Mensch und ließ sie reden. Die häufigste, berühmteste der Geschichten, die sie nun nicht mehr gemeinsam aufleben lassen können, war die von der hinkenden Nonne und ihrem Geheimnis.
    Uns erzählte sie der Vater, als wäre es eine Gutenachtgeschichte. Wir waren zu klein, um sie wirklich zu verstehen, aber

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