Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
gemacht, oder, Christofs? Ich durchwühlte jede Ecke in der Küche, im Esszimmer und im Bad. In einem toten Winkel der Wohnung, in den kein Tageslicht dringt, fand ich eine Art Rumpelkammer, etwa sechs Quadratmeter groß und angefüllt mit unzähligen Regalbrettern. Eine Vierzig-Watt-Birne hing von der Decke. Ich drückte auf den Schalter, aber es gab ja keinen Strom. Also holte ich die Kerze aus der Küche. Im flackernden Halbdunkel kam ich mir vor wie ein Forscher und der enge Raum schien mir wie ein Luftschutzbunker – oder wie das vollgestopfte Fahrerhäuschen eines Lkw. In diesem Kabuff hatte der Vater seine Erinnerungsstücke abgelegt. Er gab sich dabei nicht als besonders gewissenhafter oder nostalgischer Mensch zu erkennen, die Ansammlung war eher Zeugnis einer nomadischen Existenz. Gleichwohl liegt auf der Hand, dass die Dinge, die Gabriel nach einem halben Leben auf Achse tatsächlich aufbewahrt hat, einen wesentlichen Teil seiner Biografie ausmachen müssen.
Ich trug ein paar Pappschachteln hinüber ins Esszimmer, um sie mir bei Tageslicht anzuschauen. Eine nach der anderen öffnete ich und vertiefte mich so sehr in meine Funde, dass es darüber dunkel wurde. Immer wenn ich auf ein wichtiges Dokument oder ein besonders erinnerungsbeladenes Stück stieß, legte ich es auf dem Tisch ab, um mich in Ruhe damit zu befassen. So häufte ich nach und nach Einzelteile einer verschlungenen Geschichte an, und mich beschlich das Gefühl, der Vater hätte das alles bewusst arrangiert. Eine schwarze Mappe mit dem Emblem des spanischen Konsulats in Frankfurt am Main enthielt zum Beispiel all seine abgelaufenen Führerscheine und Pässe, voll mit Zollstempeln aus halb Europa. In einer alten Kakaodose aus Messing, auf der afrikanische Kinder abgebildet waren, bewahrte er etwa zwanzig Briefe auf, die ihm Petroli geschickt hatte, als sie beide nicht mehr bei dem Umzugsunternehmen arbeiteten. Und ganz unten in der Dose überdauerte, schon ganz vergilbt, eine andere Art von Korrespondenz: die erotischen Geschichten, die er und Bundó damals im Heim füreinander geschrieben hatten.
Eine weitere Mappe – diese hier, diese hier, diese hier! – beherbergte einen Haufen Papiere über uns vier. Namen, Adressen, Kopien der Geburtsurkunden, Fotos von uns und unseren Müttern, Bilder, die wir als Kinder gemalt hatten und die er als Schuldscheine mit sich nahm … Von allen Mappen war diese die zerfleddertste, offenbar am häufigsten zur Hand genommene, und das sage ich ohne Eitelkeit. Verblüfft begann ich sie durchzugehen und konnte nicht mehr damit aufhören. Natürlich erkannte ich bald die drei anderen Namen von dem Nachttischzettel wieder, Christof, Christophe, Christopher, als sollte es ein Witz sein. Ich suchte mir ein leeres Blatt und einen Kuli und notierte alle Details, anhand derer sich die unfassbare Enthüllung würde überprüfen lassen. Je mehr ich herausfand, desto größer wurde das Rätsel um Gabriel.
Am Abend, als ich mit der Metro zur Wohnung meiner Mutter fuhr, erschüttert und sprachlos, weil ich an diesem Nachmittag, neben vielem anderen, erfahren hatte, dass ich, über den Kontinent verteilt, drei Halbbrüder habe, da kam mir plötzlich ein Bild aus meiner frühen Kindheit wieder in den Sinn. Das Bild eines Mannes – meines Vaters –, der sich bei aller scheinbaren Gelassenheit ständig mit der linken Hand am linken Ärmel herumzupft. Eine schnelle und mechanische, unnatürliche Geste, ein Tick.
3
U NVOLLSTÄNDIGE W AISEN
»Sind wir Waisenkinder?«
»Alle vier sind wir Einzelkinder eines Einzelkinds. Nein, zweier Einzelkinder, unsere Mütter sind ja auch welche. Man könnte sagen, solange wir einander noch nicht kannten, waren wir Geschwisterwaisen – wenn es so was gibt.«
»Unvollständige Waisen.«
»Nach Cristòfols Anruf, als ich plötzlich wusste, dass ich drei Halbbrüder habe, stellte ich mir vor, wir müssten irgendein Geburtsmal gemeinsam haben. Ein geheimes Erkennungszeichen, mit dem der Vater uns schon in der Wiege markiert hätte, wie die ausgesetzten Prinzen im Märchen. Ich habe etwas in der Art an der rechten Schulter, so was wie eine Narbe. Es hat die Form eines rennenden Windhunds mit sehr dünnen Beinen. Habt ihr das zufällig auch?«
»Nein.«
»Nein.«
»Ich ja, aber auf der linken Pobacke, und es ist keine Narbe, sondern ein Leberfleck. Sieht auch nicht wie ein Hund aus. Als ich klein war, sagte meine Mutter mal, ich saß in der Badewanne, das sei das Segel von einem
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