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Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)

Titel: Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jordi Punti
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der Kabeljauverkäuferin hervor.
    Gabriel erfuhr allerdings erst viele Jahre später davon – siebzehn Jahre später, um genau zu sein – und auch nur durch den unwahrscheinlichsten Zufall. Es passierte, kurz nachdem er als Möbelpacker bei einem Umzugsunternehmen angefangen hatte. Sie sollten die Wohnung einer Familie in Sant Gervasi ausräumen, und Gabriel hatte es mit einem riesigen Eichenschrank zu tun, so schwer, dass ein einzelner Mensch ihn nicht von der Stelle rücken konnte. Also hängte er zunächst die Türen aus, dann beschloss er, auch die Schubladen herauszunehmen. Er zog die erste auf, und mit einem wurmstichigen Krachen löste er sie aus den Führungen. Das Gleiche tat er mit der zweiten. Als er sie in den Händen hielt, fiel ihm das alte Stück Zeitung auf, mit dem die Besitzer den Boden ausgelegt hatten. Eine zusammengefaltete vergilbte Seite aus der Vanguardia. Vorsichtig nahm Gabriel das Papier hoch und zog es auseinander. Die Ecken zerbröselten ihm zwischen den Fingern. Er sah einen Artikel, der vom Durchbrechen der Stalin-Linie handelte, von der Nachrichtenagentur EFE »aus dem Führerhauptquartier«. Die Zeitung musste also aus dem Zweiten Weltkrieg stammen. Er blickte auf das Datum: Mittwoch, 22. Oktober 1941. Genau ein Tag, nachdem er geboren worden war. Er wendete das Blatt und betrachtete die Meldungen auf der Rückseite. Eine Benzinreklame mit dem zukunftsweisenden Bild eines Lkw fiel ihm ins Auge, dann wandte er sich der Rubrik unter dem Bild zu. Sie hieß Vida de Barcelona, und dort stieß er auf die Nachricht von seiner Aussetzung. So etwas kommt vor.
    »Neugeborenes vor dem Tor der Markthalle von Born aufgefunden« lautete die Überschrift, und es folgten auf zehn Zeilen die Einzelheiten von Gabriels erstem Morgen, mit besonderem Gewicht auf der Herzensgüte der Fischhändlerin. Am Ende stand der Satz: »Dieser Redakteur kann bezeugen, dass das Engelchen bei Drucklegung der vorliegenden Ausgabe in der Casa de Maternidad friedlich schlief, bewahrt vor dem Tod und dem Limbus, errettet aus den Fährnissen, welche die ersten Stunden seiner irdischen Existenz begleiteten.«
    Gabriel konnte den Text bald auswendig, so oft hatte er ihn gelesen, und er sagte ihn stets mit feierlichem Ernst auf. Dieses Stück Papier war die einzige Verbindung, die er zum Leben seiner Mutter hatte. Kurze Zeit nach dem Fund, an einem freien Montag, ging er zum Markt von Born und suchte den Kabeljaustand. Während er anstand, um drei Stück Stockfisch zu kaufen – es war die Fastenzeit vor Ostern, und die Ordensschwestern im Waisenhaus der Llars Mundet, wo er damals noch lebte, wussten solche Aufmerksamkeiten zu schätzen –, beobachtete er die stattliche Frau, die ihm siebzehn Jahre zuvor seine erste Milch gegeben hatte, mit einem Gefühl zwischen Bewunderung und Befremden. Sie trug das Haar blond gebleicht. Auch wenn die Jahre an ihr nicht spurlos verstrichen waren, blieb ihr Körper ansehnlich und robust. Ihre vor Kälte bleichen Arme schienen in Marmor gemeißelt, und ihre Brüste dehnten ihr die weiße Schürze zu zwei planetarischen Rundungen. In ungebremster Regression hätte Gabriel am liebsten an Ort und Stelle wieder losgesaugt, mit der gleichen Gier wie an seinem ersten Tag.
    Unser Vater hat der Fischverkäuferin nie gesagt, dass er das Kind war, das sie einst genährt hatte. Doch ab und zu, drei- oder viermal im Jahr, besuchte er sie fortan an ihrem Marktstand.
    »Morgen nehme ich mir zwei Stunden Zeit und lasse mich bei meiner Adoptivmutter blicken«, sagte er dann immer, wenn er mit Bundó und Petroli auf dem Rückweg nach Barcelona war; er sagte es unvermittelt, als würde er am Steuer laut denken.
    Da Gabriel ein katholischer Name ist, akzeptierten die Ordensschwestern gern die Wahl, die die unbekannte Mutter getroffen hatte, und beschränkten sich darauf, die Nachnamen für den Säugling auszusuchen. Es waren gängige Findelkindnamen: Delacruz Expósito. Damals, in den ersten Jahren der Franco-Diktatur, hatten sie den Charakter eines Passierscheins und öffneten manche Tür. Wenn die Leute sie vernahmen, wurden sie von Mitleid ergriffen und malten sich aus, dass hinter dem Gesicht des elternlosen Knäbleins ein im Bürgerkrieg gefallener Vater stehen musste oder eine arme Mutter, die ihre unzähligen Kinder nicht alle hatte durchbringen können. Manch fromme Frau bekreuzigte sich, wenn sie die beiden Namen hörte.
    Wir Söhne haben sie nicht geerbt. Unsere Mütter waren mit dem Vater nicht

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