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Die italienischen Momente im Leben

Die italienischen Momente im Leben

Titel: Die italienischen Momente im Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Maccallini
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    Betrachtet man die Welt mit den Augen eines Kindes, kann man so manche Überraschung erleben, selbst wenn man die vierzig überschritten hat. Als ich 2006 auf die Piazza Castello zurückkehrte und den Palazzo Madama, die legendären Schaufenster in den Arkaden, die beeindruckenden Reiterstatuen der Dioskuren von Abbondio Sangiorgio, das Denkmal der Ritter des Ordens der Krone von Italien, die blumengeschmückten Balkone und die schmiedeeisernen Pavillons wiedersah, war das mehr als aufregend für mich. Und es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass ich mich gar nicht so sehr verändert habe und dass ich – vielleicht nach einer Abkürzung über eine schmale Treppe oder eine kleine Gasse, die mir bislang entgangen waren – urplötzlich wieder vor dem Eiswägelchen stehen könnte!
    Ich bin also in Turin, um dort einen Dokumentarfilm über »Coiffures d’art« zu drehen, eine Performance in den Straßen Turins von und mit Alejandro Rendon und Sonia Gomez, den schauspielernden Friseuren oder frisierenden Schauspielern, Schöpfern von außergewöhnlichen Haarkunstwerken. Diese beiden bauen sich für ihre Show im Stadtzentrum auf, sprechen Passanten an und verpassen ihnen unglaubliche Frisuren. Ich habe mich als Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt und lasse mich wortwörtlich »verwirren«: Nach einer halben Stunde habe ich eine Irokesenbürste auf dem Kopf und sehe aus wie eine Mischung aus einem Mohikaner und einem Bandmitglied der Sex Pistols oder, schlimmer noch, der Ramones! Fehlen bloß noch die Sicherheitsnadeln durch Nase und Wangen. Zwischen den einzelnen Takes lachen sich meine Kollegen vom Team schlapp, während ich im Geiste zu jenem Morgen im Jahr 1965 zurückkehre.
    Die Kamera macht einen großzügigen Schwenk von unten nach oben. Wenn man die Piazza Castello und die Gebäude rundherum aufnimmt, bekommt man eine ziemlich klare Vorstellung davon, wie Italien einmal war und heute nicht mehr ist. Hier lag im neunzehnten Jahrhundert das Zentrum Turins, undnoch heute zeugen viele Monumente von der Größe des Königreichs Piemont-Savoyen, das vor der Einheit Italiens einen Großteil der Apenninen-Halbinsel regierte: der königliche Palast, das Teatro Regio, der Palast der Präfektur, die Königliche Bibliothek, das Staatsarchiv, die Kirche San Lorenzo. Aber wir sind wohl die Einzigen, die sie noch beachten, denn die Passanten interessieren sich anscheinend nur für diese komischen Frisuren. Wie immer fällt nur das ins Auge, was neu und ungewöhnlich ist: »Mama, schau mal, der Mann da sieht aus wie ein Kakadu!«
    Dieser Platz ist zu schön, ich kann ihn nicht nur als Hintergrund verwenden.
    Aber wie soll ich es schaffen, alles auf einmal ins Bild zu bekommen? Ich müsste schon eine Taube sein und das Ganze von oben betrachten. Ich muss einfach weiter hinauf. Genau! »Kommt, steigen wir auf die Mole Antonelliana!« Dieses Gebäude ist ein Wahrzeichen der Stadt und beherbergt heute das nationale Filmmuseum.
    Von hier oben hat man die Gelegenheit, wirklich ganz andere Aufnahmen zu machen. Ich beginne mit einem 360-Grad-Schwenk über die Dächer, dann zoome ich mir die verschiedenen Haarkreationen heran: hier der Schnitt à la kolumbianischer Drogenhändler, dort die Löwenmähne, die da sieht aus wie ein Pudel … dann bleibt mein Blick an einer Taube hängen, die auf der Kuppel des Doms hockt; unter ihr, in einer Seitenkapelle, wird das berühmte Turiner Grabtuch aufbewahrt. Schließlich zoome ich zurück in die Totale. Wie wunderbar diese Taube aussieht, jetzt, wo sie von einem Viertel der Stadt ins andere fliegt: Dächer, so weit das Auge reicht, Kuppeln, Kirchtürme, der Palazzo Carignano, das Teatro Regio, der Markt an der Porta Palazzo. Die Sonne geht fast schon unter, und nicht einmal die Taube kann es kaltlassen, ihre Stadt, die zu den schönsten gehört, in diesem Licht zu sehen. Sogar der Po, über dessen Verschmutzungsgrad wir uns alle im Klaren sind, mutiert hier zu einemschillernden Goldfluss … Jetzt landet die Taube wieder auf der Piazza Castello: Zu jedem Bild tut sich eine Erinnerung aus meiner Kindheit auf, die ich für immer verloren glaubte. Es sind nur wenige Fragmente, die dafür umso länger halten müssen … Deshalb stelle ich meine Kamera auf Zeitlupe.
    Tausend Farben umspielen mich. Gedämpfte Farben, seit das Licht gewechselt hat. Vor Kurzem war noch alles klar und gestochen scharf, jetzt scheint die abendliche Sonne die Fassaden rot und die Dächer orange gefärbt zu haben.

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