Die italienischen Momente im Leben
müssten schon mehr anbieten, neue Arbeitsplätze, weniger Überstunden und mehr Sicherheit am Arbeitsplatz, mehr Geld in der Lohntüte.
»Da braucht es also ein Theaterstück, damit du nach Syrakus zurückkommst«, sagt er mit leichtem Vorwurf, als könnte mein kurzer Besuch von heute für ihn nie meine lange Abwesenheit wettmachen. Damit hat er nicht ganz unrecht, ich war seit über drei Jahren nicht mehr in Sizilien. Wir umarmen uns. Es ist ein Nachmittag Ende September, und noch spürt man den heißen Hauch des Schirokko. Deshalb muss ich zunächst meine Atmung anpassen, immer schön langsam Luft holen und mir diesen Rhythmus zurückerobern. Ist es die Rührung, diese herzliche Umarmung oder das alte Ortigia-Viertel, jedenfalls habe ich mich nicht unter Kontrolle. Die ganze Reise über hatte ich mir eingebläut, nein, dieses Mal werde ich nicht darauf hereinfallen, nicht sentimental werden, mich nicht von dieser Postkartenidylle überwältigen lassen. Eigentlich wollte ich nur einen alten Freund der Familie treffen, mit ihm einen Kaffee trinken, mehr nicht. Ich hatte mir sogar im Auto noch zehn persönliche Gebote aufgestellt, zum Beispiel: Du sollst dich nicht zu den Fontane Bianche, diesem wunderschönen strahlend weißen Sandstrand mit den vielen Quellen schleppen lassen; du sollst nicht den Apollotempel besuchen; du sollst dich nicht in diesen kleinen Straßen verlieren, in denen die Zeit zwischen Mittelalter und Barock stehen geblieben zu sein scheint; du sollst dich nicht vor das »Ohr des Dionysius« stellen, wie Michelangelo da Caravaggio diese künstliche Kalkgrotte bei einem Besuch im Jahr 1608 wegen ihrer Form genannt hat, die entfernt an eineOhrmuschel erinnert. Aber das ging mit U Ciclopu natürlich gar nicht. »Du kannst doch nicht nach Syrakus zurückkommen und all das nicht wiedersehen!«
In einer knappen Stunde schaffen wir einen Rundgang durch die ganze Stadt. Als wir in die Bar zurückkehren, sind dort viele Tische besetzt. Die Leute trinken Kaffee, frisch gepresste Säfte, essen cannoli , rauchen und unterhalten sich laut. Wir setzen uns dazu, endlich. Der Tisch sieht klein aus neben U Ciclopu , eigentlich wirkt alles klein neben ihm: Er ist ein solcher Riesenkerl, dass man ihm in der Fabrik sogar einen eigenen Arbeitsoverall anfertigen lassen musste, aber selbst der war nicht lang genug, immer schauten seine Knöchel hervor, und er zog ihn nie aus. Jetzt ist er ohne seinen Arbeitsanzug da, sozusagen in Zivil. Er hebt seine Riesenpranke, um die Kellnerin zu rufen, ein bildhübsches Mädchen mit einer wogenden Lockenmähne und einem Minirock über einfach umwerfenden Beinen. Ich habe Durst, möchte etwas trinken, meine Kehle ist wie ausgetrocknet. U Ciclopu fragt, ob ich einen Platz zum Schlafen habe, ich könne gern bei ihm übernachten. Dann möchte er wissen, wie es meinen Eltern geht. Sein Kaffee kommt und mit ihm mein frisch gepresster Orangensaft. Ich entspanne mich langsam und genieße das Ambiente: die Tischdecke ist schön, die Wasserkaraffe, die Servietten, die Gläser, hier wird auf jedes Detail geachtet; kein Wunder, dass sich in Syrakus in einer Bar jeder, und sei es auch nur für eine halbe Stunde, wie ein »richtiger Herr« fühlt. Nicht so wie in Rom, wo man immer hastig im Stehen sein Hefeteilchen und seinen Cappuccino hinunterschlingt. »Syrakus ist schön wie immer!«
»Noch schöner wäre es, wenn uns nicht diese Scheißpolitiker regieren würden. Das sind Riesenarschlöcher, und noch größere Arschlöcher sind die, die sie gewählt haben. Schwule Wichser, stinkende Sackgesichter.«
Er wird laut, und in seinem Eifer schüttet er mir ein wenig Orangensaft über die Hose. Einen Augenblick lang wird es ganzstill um uns herum, und alle Blicke scheinen auf uns gerichtet zu sein, doch dann fährt er fort: »Ich habe nicht gewählt, ich gehe schon seit zehn Jahren nicht mehr wählen.« Als wäre damit alles gesagt, Ende der Diskussion. U Ciclopu hat Nein gesagt, er hat nicht gewählt. »Schluss. Es reicht. Toto Riina, Buscetta, Badalamenti, Andreotti, die Brüder Salvo, Michele Sindona, die Prozesse und die blutigen Attentate, das Geschachere mit den Großkonzernen in Norditalien, die Verstrickung der Geheimdienste, hör mir doch auf! Pah. U Ciclopu hat nicht gewählt. Schon mein Großvater hat auf die ganzen Politiker und die großen Hurensöhne hier geschissen. Und mein Vater. Und ich jetzt auch!«
Ich starre ihn an. Der muss verrückt geworden sein, denke ich. Ich erkenne
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