Die italienischen Momente im Leben
Ein weiterer Schwenk nach oben zu der Taube: unbeschreiblich, wie dieser Vogel sein Glück und seine Angst in einem einzigen Flügelschlag ausdrückt.
Schließlich verlassen wir die Mole Antonelliana und gehen zurück ins Stadtzentrum. In der Via Po, deren Bürgersteige vollständig von Arkaden überdacht sind, machen wir unsere letzten Aufnahmen von den Verkaufsständen und den Buchhandlungen, die bis spätabends geöffnet sind. Um neun gönnen wir uns eine Pizza bei Ciro , eine der Traditionspizzerien Turins, wo die so gut wie in Neapel schmeckt. Weil es noch früh am Abend ist und am nächsten Tag keiner von uns arbeiten muss, gehen wir noch runter zu den Murazzi, um etwas zu trinken. Die Arkaden entlang dem Po, in denen früher die Boote untergebracht wurden, sind zurzeit extrem angesagt. Im The Beach schlürfen alle Cocktails auf Liegestühlen mit Blick auf den Fluss. Hier werde ich allerdings für einen heruntergekommenen Punk gehalten, und der Barmann, der uns eigentlich sympathisch findet, gibt uns den Tipp, doch eher in die Kneipe nebenan zu gehen, wo es ab Mitternacht tolle Punk- und Rock-Livemusik geben soll. Der Laden trägt, glaube ich, den etwas phantasievollen Namen Chi c’è c’è – Wer da ist, ist da –, und so ist es dann auch, also da ist kaum jemand. Als wir hereinkommen, gibt die Band gerade eine Coverversion von Deep Purple zum Besten. Außer uns vier neuen Gästen sind da nur etwa ein Dutzend Leute, die an denwenigen Tischen rund um eine winzige Bühne sitzen. Nach dem Song steht der Gitarrist von seinem Hocker auf, kommt zu mir rüber und wirft mir einen langen Blick zu. Vielleicht steht er ja auf mich, überlege ich, oder zumindest auf meine Frisur. Mein Tontechniker, mit dem ich auch privat befreundet bin, zieht mich auch gleich damit auf:
»Sieh an, da hast du eine Eroberung gemacht! Der Typ schaut ja fast aus wie Edward mit den Scherenhänden, pass auf, der ist bestimmt ein bisschen durchgeknallt und fährt total auf deine schicke Bürste ab!«
Merkwürdige Bewegung ist unter die wenigen Zuschauer gekommen: Eine junge Frau verschwindet immer wieder mit einem der Gäste auf der Toilette, und kurz darauf kehren sie mit einem etwas euphorisch und enthemmten Gesichtsausdruck zurück, weswegen wir der Dame schnell den Spitznamen » la Gianduia « geben, denn so heißt hier sowohl das typische Nougatkonfekt aus Haselnusscreme und Kakao als auch Kokain. Ich schaffe es, noch schnell zu zahlen, ehe wir an der Reihe sind, doch da kommt Edward mit ein paar Notenblättern in der Hand auf mich zu und bittet mich, beim nächsten Stück den Chor zu übernehmen. Er sagt noch, das Schönste an meiner Frisur sei ein Zöpfchen in Form eines geflügelten Schweins (das hatte ich vorher gar nicht bemerkt!), und außerdem würden mir blonde Locken bestimmt gut stehen. Doch dann schreit er auf einmal rum, ich könne ihn mal kreuzweise, aber ich erinnere mich nicht, was ich gesagt haben könnte, um ihn derart zu verärgern, und die ganze surreale Szene wird von grünen Leuchtpünktchen begleitet, die eine Art Laserstrahler quer durchs gesamte Lokal wirft. In einem Anflug von Großmut lasse ich mich dazu überreden, den Refrain von Child in time mitzugrölen, und irgendwie habe ich das Gefühl, dass hier etwas ganz Seltsames vorgeht. Ich bin erkältet, schlage mich aber recht wacker, obwohl ich die hohen Töne nicht ganz schaffe. Der Schlagzeuger lächelt mich an, undder Keyboarder wirft mir Kusshändchen zu … Edward mit den Scherenhänden beharrt darauf, dass ich mir eine blonde Dauerwelle zulegen soll, weil ich ihn schrecklich an Robert Plant erinnere, den Frontmann von Led Zeppelin.
»Was meinst du, wenn ein Atheist unter Drogen die Madonna sieht, sollte er dann den Dealer wechseln oder lieber der Kirche beitreten? Hahaha … o Mann, du siehst echt aus wie Robert Plant, ach Quatsch, du bist sein Doppelgänger!«, lallt er mir laut ins Ohr, und was er sagt, klingt immer undeutlicher und verwirrter.
Okay, jetzt wird mir der ganze Zirkus hier zu bunt! Ich sage ihm, wer ich bin, warum ich so schrecklich aussehe, ich mache ihm klar, dass ich von ihm und Deep Purple die Schnauze gestrichen voll habe und dass ich sofort in mein Hotel gehe. Aber der lässt sich davon überhaupt nicht beirren, denn er ist nicht nur völlig zugekokst, sondern auch noch sturzbesoffen! Ich verabschiede mich nicht einmal von meinen Freunden, sehe nur noch zu, dass ich aus der Kneipe komme, und laufe hinauf in Richtung Piazza
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