Die Jaeger der Nacht
stutzt erneut. »Wie ich höre, stammen sie von einem geheimen Ort im Hepra-Institut. Wir schalten jetzt um.«
Statt des Nachrichtenstudios erscheint auf dem Bildschirm ein karger, höhlenartiger Raum ohne Türen und Fenster. In der Mitte steht ein leerer Stuhl, daneben ein Leinensack und eine Glasschüssel. Aber niemand blickt auf den Sack, den Stuhl oder die Glasschüssel. All unsere Blicke kleben an dem unscharfen Bild eines männlichen Hepra, das in der Ecke kauert.
Es ist ältlich und drahtig, aber sein Bauch ist fett und marmoriert und ragt für seine dünne Gestalt unverhältnismäßig weit hervor. Arme und Beine sind mit Haaren bedeckt, der Anblick lässt ein Schnalzen und Schmatzen durch die Reihen gehen.
Die Kamera zoomt näher an das Hepra heran und wieder zurück. Offensichtlich operiert sie unbemannt, auf Autopilot. Wenn jemand mit dem Hepra in dem Raum wäre, hätte er es binnen Sekunden verschlungen. Die neueste Generation von Kameras, die nur relativ bewegliche zwei Tonnen wiegen, hat einen automatischen Zoom, ein technischer Fortschritt, der vor zehn Jahren noch unvorstellbar war.
Die Kamera zoomt jetzt wieder heran und erfasst die Unsicherheit des Hepra, das zu einem Punkt jenseits der Kamera aufblickt. Dann erhebt es sich wie auf Befehl und geht zu dem Stuhl. Jeder seiner Schritte spiegelt Unentschlossenheit und Vorsicht. Seine Gefühle sind roh und nackt in seinem Gesicht zu lesen.
Ein Schüler schüttelt heftig den Kopf. Speichel fließt aus unseren Mündern. Köpfe werden zur Seite gelegt und wieder gereckt, Körper sind angespannt. Jeder ist gleichzeitig in Trance und in einem Zustand erhöhter Wachsamkeit.
Die Moderatoren im Nachrichtenstudio haben die ganze Zeit geschwiegen.
Das Hepra setzt sich auf den Stuhl. Mit hervortretenden Augen blickt es wieder an der Kamera vorbei, um neue Anweisungen entgegenzunehmen. Dann greift es in den Sack und nimmt eine Kugel heraus. Darauf ist eine Zahl gedruckt: 3. Das Hepra hält die Kugel kurz in die Kamera und legt sie dann in die Glasschüssel.
Es dauert einen Moment, bis wir begreifen, was gerade geschehen ist. Die Moderatoren brechen ihr Schweigen, die Aussprache blasig und feucht vor Spucke. »Wir haben die erste Zahl, Leute. Es ist die Drei!« Lautes Stöhnen um mich herum, Zettel werden zerknüllt. Hinten im Klassenraum flucht flüsternd die Lehrerin.
Ich starre auf meinen eigenen Zettel: 3, 16, 72, 87. Kühl streiche ich die 3 aus. Nur noch wenige Mitschüler aus diesem Kurs sind im Rennen. Sie sind leicht zu erkennen. Ihre Augen funkeln erwartungsvoll. Alle anderen entspannen die Muskeln wieder, wischen sich Mund und Kinn ab und lassen sich auf ihrem Stuhl zurücksinken.
Das Hepra greift nervös nach der nächsten Kugel.
16.
Weiteres Stöhnen. Leicht zitternd streiche ich die 16 durch und muss den Stift fester fassen, um meine Finger zu kontrollieren.
Soweit ich es erkennen kann, sind mit der letzten Zahl alle verbliebenen Konkurrenten in der Klasse ausgeschieden. Bis auf mich. Bisher hat niemand bemerkt, dass ich noch im Rennen bin. Ich sammle noch mehr Speichel im Mund und lasse ihn über mein Kinn fließen. Ich werfe zischend den Kopf in den Nacken. Andere Köpfe wenden sich in meine Richtung. Wenig später hat sich eine Gruppe um mein Pult geschart.
Das Hepra zieht die nächste Zahl.
72.
Einen Moment lang herrscht verblüfftes Schweigen. Dann beginnen Köpfe zu wippen und Fingerknöchel zu knacken. Meine letzte Zahl – 87 – wird wie ein Mantra wiederholt. Jemand läuft in die Nachbarklasse und erzählt, was los ist. Ich höre Stuhlbeine über den Boden schrammen; kurz darauf stürzt die Meute herein und drängt sich um mich. Speichel tropft auf mich herab; einige haben sich mit den Füßen unter die Decke gehängt und starren auf meinen Monitor. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer durch die Flure.
Mein Herz ist außer Kontrolle. Es fühlt sich an wie eine Ratte mit Platzangst in einem beengten Käfig. Furcht packt mich. Aber im Augenblick beachtet mich niemand; alle starren wie gebannt auf den Bildschirm. Irgendwas stimmt nicht mit dem Hepra. Es schüttelt den Kopf, beinahe heftig, die Augen angstvoll aufgerissen. Ein überwältigendes Schauspiel roher Gefühle. Plötzlich fällt eine Frucht durch eine Klappe in der Decke. Eine rote Frucht. Das Hepra macht einen Satz und verschlingt sie in Sekundenschnelle.
»Wie eklig«, sagt irgendjemand.
»Igitt, ich kann kaum hinschauen.«
Das Hepra macht ein paar
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