Die Jaeger der Nacht
Schritte auf den Sack zu, um die nächste Kugel herauszuziehen, und stutzt. Es lässt den Sack fallen und verzieht sich in die hinterste Ecke, wo es sich hinkauert, die Ohren zuhält und die Augen zukneift. Dann hebt es kurz den Kopf und starrt auf den Punkt jenseits der Kamera. Es reißt angstvoll die Augen auf und wirft den Kopf hin und her, bevor es ihn zwischen die Knie klemmt.
»Es will die letzte Zahl nicht ziehen«, flüstert eine Schülerin.
»Ich hab euch ja gesagt, diese Hepra sind schlauer, als sie aussehen«, bemerkt die Lehrerin. »Irgendwie weiß es, dass die Zahlen für die Jagd sind.«
Der Bildschirm wird schwarz. Es wird wieder ins Nachrichtenstudio umgeschaltet. Das erwischt die Moderatoren offenbar unvorbereitet. »Allem Anschein nach gibt es ein paar technische Probleme«, sagt der männliche Moderator und wischt sich hastig das Kinn ab. »In wenigen Augenblicken sollten wir wieder live rüberschalten können.«
Aber es dauert länger als wenige Augenblicke. Die Aufzeichnung von der Ziehung der ersten drei Zahlen durch das Hepra läuft in endloser Wiederholung. In der Schule verbreitet sich die Nachricht über mich; noch mehr Schüler drängen in unser Klassenzimmer.
Dann gibt es weitere Neuigkeiten: Ein zweiter Schüler ist ebenfalls noch im Rennen. Während ich ruckartige Kopfbewegungen mache, stelle ich ein paar überschlägige Berechnungen an. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich auch die letzte Gewinnzahl habe, beträgt eins zu siebenundneunzig, etwas mehr als ein Prozent. Eine beruhigend geringe Chance, rede ich mir ein.
»Guckt mal!«, sagt jemand und zeigt auf den Tischmonitor.
Der Sender hat aus dem Nachrichtenstudio zu einer Location unter freiem Himmel umgeschaltet. Das männliche Hepra ist verschwunden. An seiner Stelle ist jetzt ein junges weibliches Hepra zu sehen, das auf einem Stuhl sitzt, neben sich den Sack und die Glasschüssel. Das Bild glänzt, als ob das Hepra durch eine Glaswand von der Kamera getrennt ist. Dahinter sieht man in der Ferne ein Gebirge unter vereinzelten Sternen am Himmel. Im Gegensatz zu seinem Artgenossen blickt dieses Weibchen nicht nervös an der Kamera vorbei, sondern schaut direkt in die Linse. In seinem Blick liegt eine Konzentration und Selbstbeherrschung, die für ein Hepra in Gefangenschaft merkwürdig erscheint.
Ein paar der Jungen springen auf die Tische. Hepra-Weibchen sind bekanntermaßen delikater als die Männchen. Das Fleisch ist saftiger und teilweise fetter. Und ein weibliches Hepra im Teenageralter, wie dieses hier, gilt als das köstlichste von allen, ein unvergleichlicher Geschmack.
Bevor das Zischen und Sabbern wieder losgeht, greift das Hepra schon in den Sack. Ruhig zieht es eine Kugel und hält sie mit ausgestrecktem Arm in die Kamera. Doch ich schaue auf seine Augen: Sie scheinen auf meine fixiert, als würden sie mich durch die Linse der Kamera sehen.
Ich muss die Kugel gar nicht angucken, um zu wissen, dass das Hepra die 87 gezogen hat. Meine Klassenkameraden stoßen ein explosionsartiges Zischen aus, gefolgt von lautem Schmatzen. Ich werde mit Glückwünschen überhäuft: Ohren werden an meinen gerieben. Zwischen all den Ohr-Umarmungen blicke ich noch einmal auf den Bildschirm: Erstaunlicherweise hält das Hepra die Kugel mit der Ziffer noch immer in die Kamera, einen Ausdruck von stillem Trotz im Gesicht. Das Bild wird ausgeblendet. Aber im letzten Moment sehe ich, wie die Augen des Hepra feucht werden. Es senkt leicht den Kopf, Haarsträhnen fallen über seine Augen. Sein Trotz scheint einer plötzlichen, überwältigenden Traurigkeit zu weichen.
Es dauert nicht lange, bis sie kommen. Während meine Klassenkameraden mir noch gratulieren, höre ich Stiefel im Sturmschritt über die Flure marschieren. Bis die Tür zu unserem Klassenzimmer aufgeht und der Trupp von vier Mann hereinkommt, steht jeder Schüler an seinem Platz stramm. Die Männer tragen piekfeine, eng geschnittene Seidenanzüge mit Nadelstreifen.
»F3?«, fragt der Anführer des Trupps, der hinter dem Pult der Lehrerin stehen geblieben ist. Seine Stimme ist wie sein Anzug, seidig und hochgestochen, doch sie klingt nach unbestreitbarer Autorität.
Ich hebe die Hand.
Alle vier Augenpaare schwenken zu mir und fixieren mich. Sie wirken nicht feindselig, sondern bloß wachsam.
»Glückwunsch, F3, du hast die Gewinnzahl der Lotterie«, murmelt der Anführer. »Komm jetzt mit. Du wirst direkt ins Hepra-Institut gebracht. Der Transporter wartet schon vor der
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