Die Jäger des Lichts (German Edition)
liegenden Fluss. »Nein, ich glaube, es gibt nur eine Gruppe, und zwar die, die vorausgesprintet ist.«
»Und sie wollen uns eine Falle stellen?«, fragt Sissy.
»Ich glaube schon«, antworte ich und verziehe das Gesicht. »Ich weiß es nicht.«
»Worauf warten wir dann noch?«, fragt Epap. »Lass uns sofort anlegen.« Er will die Steuerstange greifen.
»Warte!«, sagt Sissy. »Vielleicht hoffen sie, dass wir genau das tun. Vielleicht sind sie umgekehrt und beobachten uns in diesem Moment heimlich im Schutz der Hügel. Uns zum Anlegen zu bewegen, ist vielleicht gerade die Falle, die sie gestellt haben; sie warten nur darauf, dass wir so dummsind, selbst die einzige Barriere zu entfernen, die zwischen uns und ihnen liegt: der Fluss. Wenn wir anlegen, stürzen sie sich in zehn Sekunden auf uns.«
»Was sollen wir denn sonst machen, Sissy?«, fragt David.
Stählerne Entschlossenheit blitzt in ihren Augen auf. »Wir bleiben auf dem Fluss. Wenn sie uns eine Falle gestellt haben, stürmen wir durch. Was immer sie für uns vorbereitet haben, wir kämpfen. Wir drehen jedenfalls nicht Däumchen und warten auf sie. Wir gehen unserem Schicksal entgegen, was immer es sein mag.« Sie sieht mich an. »So gehe ich vor.«
Fast eine Stunde lang sehen wir nichts. Das Boot treibt den reißenden Fluss hinunter, jede Sekunde ist spannungsgeladen, eine Ewigkeit der Ungewissheit. Ich stehe mit offenen Augen am Bug und lasse suchend den Blick schweifen. Vor uns verengt sich der Fluss und schlägt schäumend an die Ufer. Nicht nachlassen , ermahne ich mich, nicht eine Sek …
In diesem Moment stoppt das Boot mit einem Ruck, als wäre es gegen eine Betonmauer gefahren. Wir werden alle nach vorn geschleudert und purzeln über das Deck. Mich hätte es beinahe über Bord gerissen – nur ein schneller Griff an die Reling verhindert meinen Sturz in den Fluss. Sissy ist als Erste wieder auf den Beinen, wirbelt herum und versucht zu begreifen, was los ist.
Ich erkenne, was uns gestoppt hat. Quer über den Fluss ist ein Seil gespannt, gegen das das Boot jetzt drückt. Die Jäger müssen eine Harpune dabeigehabt haben, mit der siedas Seil in einer engen Biegung des Flusses ans andere Ufer geschossen haben.
»Ich glaub, ich hab mir die Rippen gebrochen«, jammert Epap, beißt die Zähne zusammen und faltet die Hände so behutsam vor der Brust, als würde er ein unsichtbares Baby in den Armen wiegen. »Ich krieg keine Luft, jeder Atemzug tut weh …«
»Sissy!«, rufe ich. »Gib mir deinen Dolch! Wir müssen das Seil durchschneiden!«
Man hört Schritte auf den Holzplanken, dann rutscht Sissy, die Füße voran, platschend auf mich zu. Sie starrt in den Fluss und sieht das Seil. Entsetzen dämmert in ihrem Gesicht. Sie will sich gerade bücken, um das Seil durchzuschneiden, als sie stutzt.
»Schneid es durch, Sissy!«
»Und was ist, wenn sie sich im Wasser verstecken?«
»Sie können nicht unter Wasser schwimmen!«
»Wo sind sie dann?«
»Ich weiß ni…«
Ein paar Meter vor uns stürzt etwas mit einem gewaltigen Platschen in den Fluss.
»Was war das?«, ruft Jacob.
Wieder hört man ein lautes Platschen, diesmal näher beim Boot.
»Sind sie das da im Wasser?«, fragt Jacob und weicht zurück. »Sind sie das?«
»Nein!«, rufe ich, »sie können nicht schwimmen!«
»Und was …?«
Mit einem lauten Krachen splittert direkt neben mir Holz von den Planken. Ein großer gusseiserner Enterhaken, schwarz wie die Nacht, mit vier messerscharfen Krallen, hat sich halb in die Deckplanken eingegraben; er ist mit einem Seil verbunden, das sich bis zum Ufer spannt. Und dann sehe ich auch die Jäger. Sie sind halb hinter einem grasbewachsenen Hügel versteckt, doch das Seil zeigt auf sie wie ein Pfeil.
Ich packe den Enterhaken, spüre, dass er mit einer glitschigen Flüssigkeit überzogen ist, und reiße die Hände zurück. »Packt die Haken nicht an!«, rufe ich so laut ich kann. »Sie sind von oben bis unten voll mit ihrem Speichel!«
»Das ist jetzt nicht der Moment, empfindlich zu werden!«, ruft Sissy zurück. »Wir müssen sie aus dem Holz lösen!«
Ich starre sie an, perplex über ihre Ahnungslosigkeit. Möglicherweise weiß sie es einfach nicht: Wenn der Speichel der Jäger mit einer noch so kleinen offenen Wunde in Berührung kommt, ist es vorbei. Die Verwandlung setzt ein. Ich reiße mir das Hemd vom Leib und wickle es um eine der Krallen. »Achtet darauf, dass eure Haut nicht mit dem Speichel in Berührung kommt!«, rufe ich.
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