Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Jagd auf die Venus

Die Jagd auf die Venus

Titel: Die Jagd auf die Venus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Wulf
Vom Netzwerk:
der wenigen Schiffe, die noch in der dezimierten Flotte von Mauritius verblieben waren, für diese Aufgabe abzustellen. Sofort erkannte Le Gentil seine Chance. Die Zeit war knapp, aber die Seeleute versicherten ihm, dass sie die Überfahrt in zwei Monaten schaffen könnten  – gerade noch
rechtzeitig für den Transit. Mehr war nicht nötig, um Le Gentil zu überzeugen. Pondichéry war laut Delisle und Halley einer der wichtigsten Beobachtungsorte auf der Erde, und Le Gentils Berechnungen für die Transit-Beobachtung von Rodriguez und Mauritius waren nicht sehr verheißungsvoll. Für den Fall, dass die Stadt noch immer in britischer Hand war, rechnete Le Gentil zuversichtlich damit, dass er an der indischen Südostküste eine andere Beobachtungsstation finden würde.
    Am 11. März 1761 verließ Le Gentil Mauritius und befand sich nach einem kurzen Zwischenhalt auf der Nachbarinsel Réunion (die damalige Île Bourbon) auf dem Weg nach Pondichéry. Zunächst berichtete der überglückliche Le Gentil, alles verlaufe reibungslos. Jeden Tag legte das Schiff zwischen 30 und 45 Seemeilen zurück. Sie kamen zügig voran, bis sie nördlich von Madagaskar auf den Nordostmonsun trafen. Statt in gerader Linie quer über den Indischen Ozean nach Indien zu segeln, trieben die Winde sie in Richtung Afrika. Sie kamen kaum noch voran. Da die Übergangszeit des Monsuns in den April und Mai fällt  – dann drehen die Winde langsam und werden zum Südwestmonsun der Sommermonate  –, betete Le Gentil jeden Morgen, dass sie ihre Richtung verändert hätten. Doch seine Gebete wurden nicht erhört. Statt vor kräftigen westlichen Winden zu laufen, die sie rasch nach Pondichéry getragen hätten, lag das Schiff bewegungslos in einer Flaute, als hätte jemand plötzlich die Bremsen gezogen. Ref 38
    Ende April konnte Le Gentil zu seinem Entsetzen die Küstenlinie der Insel Sokotra, unmittelbar östlich des Horns von Afrika, sehen. Es blieb nur noch ein Monat bis zum Transit, aber er war noch mehr als 2000 Seemeilen von Pondichéry entfernt. Reglos hingen die Segel von den Rahen, und das Schiff schien unbeweglich auf der spiegelglatten See zu liegen. Bei Tag wurde die Luft von der Hitze mit unruhigem Flimmern erfüllt, und am Abend blickte Le Gentil über das Meer und stellte sich vor, dass »goldene Pailletten« über die endlose Wasserfläche gestreut worden
wären. Das Schauspiel regte seine Sinne an. Nie zuvor hatte er dergleichen gesehen und gewann den Eindruck, dass die Sonnenstrahlen »goldenen Säulen« glichen, die vom Horizont bis zu ihrem Schiff reichten. Es gab keine Wolke, die das blaue Himmelsgewölbe über ihnen fleckte, aber auch keinen Windhauch, der ihre Segel blähte. So selten schön dieser Anblick auch war, das Schiff kam nicht voran. Obwohl sie Mauritius sieben Wochen zuvor verlassen hatten, waren sie noch immer näher an Afrika als an Indien.
    Mitte Mai dann, als nicht mal ein Monat bis zum Transit blieb, stießen sie endlich auf den Südwestmonsun. Als ihr Segler nun durchs Meer rauschte, gestattete sich Le Gentil wieder ein wenig Hoffnung. Ende des Monats konnte er in der Ferne eine Lichterkette erkennen. Sie waren schnell gewesen, aber nicht schnell genug  – die Lichter waren nicht die von Pondichéry an der indischen Südostküste, sondern von Mahé an der Südwestküste  – auch ein französischer Handelshafen. Jetzt mussten sie es in weniger als zwei Wochen bis Pondichéry schaffen.
    Am nächsten Morgen, als sie sich der Küste näherten, sah Le Gentil die englische Fahne im Wind flattern. Zwei kleine Boote stoppten ihr Schiff und übergaben Briefe des Gouverneurs von Mahé. Er schrieb, dass der Hafen von den Briten erobert worden sei. Die Nachricht erwies sich beim Weiterlesen als noch schlimmer: Auch Pondichéry hatte sich den Belagerern ergeben. Es bestand keine Aussicht, den Transit von dort aus zu beobachten. Ref 39
    »Zu meinem großen Verdrusse«, schrieb Le Gentil am 24. Mai in sein Tagebuch, wurde trotz seiner flehentlichen Bitten beschlossen, nach Mauritius zurückzukehren. Da keine Zeit zu verlieren war und die Gewässer von britischen Schiffen wimmelten, gab der Kapitän Befehl zur Kursänderung. Als hätten sich Himmel und Meer ebenfalls gegen sie verschworen, gerieten sie in einen Sturm, der so heftig war, dass ihr Schiff von den Wogen in schwindelnde Höhe getragen wurde. Le Gentil wusste nicht,
wie ihm geschah. Er war der erste Astronom gewesen, der Europa verlassen hatte, und nun,

Weitere Kostenlose Bücher