Die Jagd auf die Venus
zur Besatzung, die Comte d’Argenson »sei ein ausgezeichnetes Schiff und könne Land und Felsen so mühelos wie die Wogen des Meeres zerteilen«. Sie sahen fliegende Fische, und manchmal war das Meeresleuchten so stark, dass das Wasser »in Flammen« zu stehen schien, und einmal musste ein Matrose aus dem Meer geborgen werden, weil er vom Besanmast gestürzt war. Der denkwürdigste Tag war ihre Äquatorquerung. Tagelang bereiteten die alten Seebären die »Äquatortaufe« vor, zogen das Kostüm des sogenannten »Père de la Ligne« – »Vater des Äquators« – an und probten die Streiche, die sie den Äquator-Neulingen spielen wollten. Ref 35
Obwohl die »Feier« und die Scherze töricht waren, hatte dieser Augenblick doch etwas Majestätisches, vor allem für einen Astronomen. Sobald sie den Äquator überquert hatten, offenbarte ihnen die südliche Hemisphäre ein schimmerndes Himmelsgewölbe mit Sternen, die Pingré noch nie gesehen hatte. Der Astronom, der einmal geäußert hatte »der Schnaps verleiht uns
die erforderliche Kraft, um die Entfernung zwischen Sonne und Mond zu messen«, begann, seine Beobachtungen ernster zu nehmen, und erledigte seine Messungen nun »nicht mehr mit der Flasche, sondern mit dem Oktanten«.
Alles verlief planmäßig bis zum 8. April 1761, kurz nach der Umsegelung des Kap der Guten Hoffnung. Am Morgen sichteten sie in der Ferne einen Segler, von dem sie zunächst befürchteten, es sei ein feindliches Schiff – das sich dann aber als die Le Lys entpuppte, ein französisches Versorgungsschiff, das von den Briten angegriffen worden war. Der vom Kap kommende Segler war bis zum Rand beladen mit Vorräten für die Speicher der Compagnie des Indes auf Mauritius. Allerdings war er so schwer beschädigt, dass der Kapitän anordnete, Pingrés Schiff sollte ihn begleiten und schützen. Ref 36
Als sie langsam in Richtung Mauritius fuhren – auf der Comte d’Argenson hatte man die Segel gerefft, um sich der Geschwindigkeit der Le Lys anzupassen –, wurde Pingré immer aufgebrachter. Niemals würden sie rechtzeitig nach Rodriguez gelangen, wenn sie zuerst Mauritius anlaufen müssten. Seine Reise, so Pingré, würde »vollkommen nutzlos sein«. 11 Er argumentierte, bat und flehte, ja, er drohte den Kapitänen sogar mit gerichtlichen Schritten. Eines Abends schrieb er einen offiziellen Beschwerdebrief, in dem er die beiden Männer daran erinnerte, dass er im Auftrag des französischen Königs, der Académie des Sciences und der Compagnie des Indes unterwegs sei und eindeutige Befehle habe, sich nach Rodriguez zu begeben. Das sei »seine heiligste Pflicht«, schrieb Pingré, »ganz Europa« schaue auf ihn, weil seine Beobachtungen nicht nur für Frankreich, sondern
auch für die Wissenschaft von größter Bedeutung seien. Als sein hochtrabender Ausbruch nicht die erhoffte Wirkung zeitigte, versuchte Pingré die beiden Männer mit Vernunft und logischem Denken zu überzeugen, indem er immer und immer wieder die exakte Position der Schiffe bestimmte und den beiden Kapitänen erklärte, dass sie sich eigentlich auf dem Kurs nach Rodriguez befanden. Zunächst hatte der Kapitän der Le Lys versucht, Pingré mit frischem Obst und Fleisch vom Kap zu besänftigen, doch schließlich war er so genervt von dem pausenlosen Gemecker des Astronomen, dass er drohte, »ihn über Bord zu schmeißen«.
Pingrés Kursberechnungen erwiesen sich als richtig. Am 3. Mai 1761 sah er Rodriguez am Horizont. Obwohl sie so nahe waren, blieb die Insel unerreichbar für ihn. Einer der Offiziere der Comte d’Argenson machte einen letzten Versuch, den Kapitän zu einem kurzen Halt zu bewegen, damit Pingré an Land gehen konnte. Doch es hatte keinen Sinn, weiter zu flehen, der Kapitän hatte seine Entscheidung gefällt. Mit Kurs auf Mauritius segelte Pingré an Rodriguez vorbei. Nach viermonatiger Seereise verfehlte er seinen Bestimmungsort nur um wenige Meilen. Ref 37
Hätte Le Gentil Erfolg mit seinem Plan gehabt, Mauritius zu verlassen, um den Transit auf Rodriguez zu beobachten, hätten sich die Wege der beiden französischen Astronomen möglicherweise auf See gekreuzt. Doch überraschenderweise war es Le Gentil gelungen, eine Überfahrt nach Indien zu finden. Ende Februar war aus Frankreich ein Schiff auf Mauritius eingetroffen, mit der Order, Verstärkungskräfte nach Pondichéry zu schicken. Nach einigem Hin und Her beschloss der Gouverneur und Kommandant der Insel, die Le Sylphide , eines
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