Die Jagd nach dem Vampir
der Morningside so ausgelegt, dass die kreative Seite jedes Kindes gefördert wird. Es gibt jedoch Grenzen, was das Ausleben der Fantasie anbelangt.«
»Ich verstehe«, sagte Bill und vermied es, Miss Archer zu widersprechen oder ihr zuzustimmen, bevor er die Details kannte. Mein Mann ist ein guter Anwalt.
»Mir ist auch die Tatsache bekannt, dass einige Kinder Schwierigkeiten haben, sich der Schule anzupassen«, fuhr Miss Archer fort. »Das neue Umfeld, die neuen Spielgefährten und der neue Tagesablauf können zu einem Gefühl der Desorientierung führen, das manche Kinder auf besorgniserregende Weise ausleben.«
Unruhig wrang ich die Hände und wünschte, Miss Archer würde auf den Punkt kommen. Ich wollte keinen Vortrag über Kinderpsychologie hören, ich wollte wissen, was genau meine Söhne getan hatten, um in der Riege unangepasster Störenfriede zu landen. Bill ging es offenbar genauso.
»Ich möchte Sie nicht drängen, Miss Archer«, sagte er und schlug lässig die Beine übereinander, »aber ich würde es begrüßen, wenn Sie die Frage meiner Frau beantworteten. In welcher Weise sind Will und Rob verantwortlich für Matilda Lawrences Albträume?«
»Matilda Lawrence ist nicht ihr einziges Opfer«, entgegnete Miss Archer und tippte mit dem Zeigefinger auf den Ordner. »Ich habe gestern mit der Lehrerin Ihrer Söhne gesprochen. Miss Brightman bestätigte, dass Will und Rob auch anderen Schülern Angst eingejagt haben.«
»Wie?«, beharrte ich.
»Ihre Söhne haben den Kindern eine Reihe von Geschichten aufgetischt, die man nur als grässlich bezeichnen kann.« Miss Archer verzog angewidert die Lippen. »Und haben einige von ihnen sehr beeindruckt. Als Miss Brightman sie deswegen zur Rede stellte, behaupteten Ihre Söhne, diese Geschichten seien wahr.« Miss Archer legte den Kopf schräg. »Während ich auf der einen Seite die Erfindungsgabe Ihrer Söhne bewundere, bin ich auf der anderen entsetzt darüber, dass sie Wahres offenbar nicht von Erfundenem zu unterscheiden vermögen, sowie über ihre Bereitschaft, ihre Mitschüler in Angst und Schrecken zu versetzen.«
Meine Nervosität schwand ebenso schnell, wie meine Wut erwachte. Ich hätte mir auf die Zunge gebissen, wenn Miss Archer den Jungen schlechtes Betragen vorgeworfen hätte, aber niemand – nicht einmal eine angesehene Schulrektorin, die mir eine Heidenangst einjagte – durfte sie der Lüge bezichtigen und ungestraft davonkommen. Meine Jungs sagten immer die Wahrheit.
Ich hob die Schultern und bedachte sie mit einem Blick, bei dem andere unter den Schreibtisch gekrochen wären. »Wollen Sie damit andeuten, dass meine Jungen lügen?«
»Ich deute es nicht nur an«, entgegnete Miss Archer. »Ich stelle es fest.«
Bill musste erkannt haben, dass sich Miss Archer auf dünnes Eis begeben hatte, denn er legte mir beruhigend eine Hand auf meinen Arm.
»Eine interessante Aussage, Miss Archer«, sagte er rasch. »Haben Sie Beweise dafür? Vielleicht können Sie uns ein Beispiel für die Art von Geschichten geben, die Will und Rob ihren Klassenkameraden erzählt haben.«
»Das habe ich auch vor«, sagte Miss Archer. »Dank Miss Brightman kann ich die Geschichten sehr genau wiedergeben.« Sie setzte die Brille auf und öffnete den Ordner. Nachdem sie ihre Notizen durchgesehen hatte, bedachte sie uns mit einem kritischen Blick. »In einem dieser Märchen schleppt ein sogenannter böser Mann ihre Söhne aus einem Schloss auf einer einsamen Insel und versucht sie während eines verheerenden Sturms ins Meer zu werfen.« Missbilligend schüttelte sie den Kopf. »Also wirklich …«
»Ha!«, unterbrach ich sie mit kalter Verachtung, »diese Geschichte haben Will und Rob keineswegs erfunden. Sie ist vollkommen wahr. Es geschah vor einem knappen Jahr, oben in Schottland, und es gab nichts ›Sogenanntes‹ an dem bösen Mann. Der Wahnsinnige hat mir aus kurzer Entfernung in die Schulter geschossen.« Ich beugte mich vor. »Möchten Sie die Narbe sehen?«
Miss Archer starrte mich über die Gläser ihrer Brille an. »Wie bitte …?«
»Im vergangenen April hatten wir eine unangenehme Begegnung mit einem Stalker«, fügte Bill hilfreich hinzu. »Sogar in der Times wurde darüber berichtet.«
»Und Sie hielten es nicht für nötig, mich darüber zu informieren, als wir über Ihr Familienleben sprachen?« Miss Archer betrachtete uns ungläubig.
»Die Geschichte gehörte nicht zu unserem Familienleben«, verteidigte ich mich. »Es ist nicht so, als würde
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