Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
Gartentor bleibt sie noch einmal kurz stehen und sieht nach der Haustür, die hinter ihr ins Schloss gefallen ist.
Ganz von alleine …
Dann geht sie die staubige Straße hinunter, direkt auf den Waldrand zu.
Nicht lange danach: Sie gehen nebeneinander her. Unter Eddas Füßen verändert der Boden seine Gestalt. Wird weicher. Fast wie ein Teppich aus Samt oder so.
Sie sprechen kein Wort.
Edda blinzelt hinauf in das Sonnenlicht, das – gebrochen durch das Laub der Bäume – auf ihren Weg fällt. Wo sie sind, weiß sie schon lange nicht mehr. Dafür fällt ihr ein altes Märchen ein: Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald.
Unwillkürlich dreht sie sich um und blickt zurück. Doch da sind keine Kiesel auf dem Weg. Und auch keine Brotkrumen. Nur Moos und Gehölz und trockenes Laub.
Und plötzlich hat sie Angst.
Angst, den Heimweg nicht mehr zu finden.
Angst, abhanden zu kommen. Verloren zu gehen. Sie weiß es selbst nicht genau.
Die Sonne malt Blockstreifen zwischen die dichten Zweige des Unterholzes.
Siehst du, Licht kann man sehen.
Schnell schaut sie wieder nach oben.
Irgendwo in einem der Bäume schreit ein Vogel.
Seltsam, aber es klingt tatsächlich wie ein Schrei, was sie da hört. Nicht wie Gesang oder so. Und noch einmal. Als ob er sie aufmerksam machen wolle auf … Ja, auf was?
Vielleicht ist das ein Eichelhäher, denkt sie. Sie hat mal gehört, dass Eichelhäher die anderen Bewohner des Waldes vor Unbekanntem warnen. Oder vor Gefahr.
Jetzt hast du ihn erschreckt.
Das hat sie nicht gewollt, ihn erschrecken. Ganz bestimmt nicht.
Betroffen blickt sie sich um.
Die Bäume ringsum haben Gesichter. Tiefe, schwarze Münder grinsen sie an. Unheimliche Dinge lauern darin. Spinnen und Käferlarven. Die Käfer fressen Kanäle in die Bäume, und dann stopfen sie die Gänge mit toten Fliegen und Würmern voll, behauptet Erich, ein Junge aus ihrer Klasse. Damit die Brut etwas zu essen hat. Die Käferbrut.
Sie bleibt stehen. Müde auf einmal. Erschöpft von der Hitze.
Wie kannst du denn müde sein? Wir sind doch noch gar nicht weit gegangen.
Immer wärmer. Immer schwüler. Über den nahen Feldern wabert die Hitze. Das Korn steht vollkommen unbewegt.
Edda ist schwindlig.
„Unerträglich“, sagt ihre Mutter und hängt nasse Laken in die Fenster der Schlafzimmer. „Unterm Dach könnte man Spiegeleier braten“, behauptet der Opa und zwinkert Edda mit seinen warmen braunen Opaaugen zu.
Drüben auf den Äckern laufen die Männer schon seit Wochen mit freien Oberkörpern herum. Abends schmieren sie sich Quark auf ihre Blasen, und ein paar Tage später kann man überall die Haut abziehen.
Sie bleibt abermals stehen und sieht ihre Arme an. Die feinen blonden Härchen glänzen wie Gold und kleben an ihrer verschwitzten Haut fest.
Jetzt komm endlich! Wir sind fast da.
Hoch über ihren Köpfen schreit wieder der Vogel. Der Eichelhäher. Oder ist es doch Edda, die da schreit?
Etwas geschieht mit ihr, etwas, das sie nicht erwartet hat …
Sie fühlt keinen Schmerz, nicht direkt jedenfalls. Eher einen Schlag. Und dann noch einen. Die Lichtstreifen zwischen den Bäumen brechen auseinander und das Bild vom Wald, das noch immer wie eine vage Erinnerung vor ihren sterbenden Augen flimmert, zerplatzt in tausend Stücke.
Dann ist es plötzlich dunkel und still.
EINS
1
Dienstag, 24. Juli 2007
Lilli Dahl läuft durch den Wald, und ihr Atem geht ein wenig zu schnell, aber das kommt vom Rennen, an das sie nicht gewöhnt ist. Dreißig Jahre in ein und demselben Haus, da rostet man zwangläufig ein, und schließlich ist sie ja auch keine siebzehn mehr, obwohl sie sich manchmal durchaus noch so fühlt.
Um sie herum knackt es.
Äste vielleicht.
Vielleicht aber auch nicht …
Sie sieht sich nicht um. Aber eigentlich will sie es gar nicht wissen. Schlimm genug, dass sie wieder einmal durch den Wald muss, so tief ins Unterholz, dass sie den Weiher nicht mehr sehen kann. Am Weiher ist alles viel leichter. Jeder Schritt geht sich von selbst, so lange sie die Hütte und das Wasser im Blick hat. Die Eckpfeiler ihrer Welt. Doch außerhalb dieser Grenzen lauert Gefahr, das weiß sie nur zu gut. Allerdings weiß sie auch, dass sie der Gefahr nicht ausweichen kann. Nicht dieses Mal.
Nicht heute …
Dass sie an diesem Tag auch ein Versprechen brechen muss, macht ihr gehörig zu schaffen. Aber sie tröstet sich mit der Einmaligkeit der Aktion. Und mit der Aussicht auf den Brief, den sie zu
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