Die Jahre am Weiher: Der zweite Fall für Winnie Heller und Hendrik Verhoeven (German Edition)
Prolog
Manche Kinder verschwinden einfach.
An einem strahlenden Sommertag,
an dem nicht die kleinste Wolke
einen Hinweis auf die drohende Gefahr gibt,
verlassen sie einer Nichtigkeit wegen unser Blickfeld,
um nie wieder zurückzukehren.
SOMMER 1971
Edda Magdalena Bender steht am Küchenfenster und betrachtet den Baum auf der anderen Seite der Straße, an dem schon die Äpfel leuchten. Bereits jetzt, am frühen Morgen, ist es unerträglich schwül. So schwül, dass Edda selbst das leichte weiße Baumwollkleidchen zu viel wird, das sie tragen muss, weil sie ja nicht nackt auf die Straße gehen kann. Da ist ihre Mutter sehr genau, auch wenn Rosemarie, Eddas Schwester, auch an diesem Morgen nur einen winzigen roten Bikini trägt.
Aber Rosemarie ist nun mal die Ältere.
Edda seufzt. Ältere Schwestern, denkt sie, sind auch nicht immer ein Geschenk.
Sie überlegt, wo Rosemarie wohl ist, im Moment. Wahrscheinlich döst sie auf der Liege hinter dem Haus und wartet darauf, dass irgendwelche Arbeiter vorbeikommen und pfeifen. Sie ist nämlich mächtig stolz darauf, dass sie schon Kurven hat. Doch das findet Edda gar nicht schön. Und sie kann es auch nicht leiden, wenn ihre Schwester so erwachsen tut. Sich bewegt und so.
Frühreif , nennt das die Oma, und sie macht dabei ein Gesicht, dessen Ausdruck Edda Rätsel aufgibt.
Sie selbst ist gerade neun geworden und heilfroh, dass sie noch nichts Frauliches an sich entdecken kann. Sie reibt sich die dünnen Arme, die gebräunt sind von fünf langen Wochen Sommerferien. Jeden Tag draußen. Jeden Tag Sonne. Ein Traum von Langeweile in Himmelblau und Lichtgelb.
Geregnet hat es während dieser ganzen Zeit nur zweimal. Kurze Güsse, kaum genug, um die dahinwelkenden Blumen zu erfrischen.
„Wenn sich so ein Hoch erst mal über Russland festsetzt, dann bleibt’s auch `ne Weile“, brummt der Vater, wenn er abends verschwitzt und mit öligen Händen aus der Werkstatt nach Hause kommt. „Da können wir noch wochenlang schwitzen.“
Was für Aussichten!
Edda spuckt aus dem weit geöffneten Fenster, direkt in die hitzemüden Rosen, deren Blüten in der sengenden Sonne zu vertrockneten braunen Klumpen verkommen sind, und denkt an Annette, die am Meer ist, jetzt, in diesem Augenblick. An einem Strand voller Quallen und Krabben und Muschen. Letztere sammelt Nettie in einen kleinen grünen Plastikeimer, und abends, wenn sie wieder im Hotel sind, sortiert sie die Muscheln nach Farben. Annette ist Eddas beste Freundin, und wenn sie nicht gerade verreist ist, machen sie praktisch jeden Tag etwas zusammen. Annettes Mutter bekommt eine ansehnliche Pension, weil Annettes Vater bei der Regierung gewesen und gestorben ist, bevor er ihre Mutter verlassen konnte, sagt Eddas Vater. Deshalb haben sie jetzt genug Geld, um in den Süden zu fahren, wo immer das ist. Und Edda hat niemanden, mit dem sie spielen kann, in diesen Tagen.
Notgedrungen freut sie sich auf die Schule, die nächste Woche wieder beginnt. Die neuen Bücher liegen schon auf dem Schreibtisch, oben in ihrem Zimmer. Naturlehre ist dabei, ein neues Fach, und Edda ist überzeugt, dass ihr das Spaß machen wird. Sie liebt Tiere und Blumen und Bäume, und sie kennt auch schon eine ganze Menge beim Namen.
Nebenan in der Küche werkelt die Oma. Es duftet verführerisch nach frisch gebrühtem Kaffee und Gebäck.
Edda schlendert zur Küchentür und betrachtet den Rücken am Herd, der krumm ist. Wie bei der Hexe im Märchen, denkt sie und lacht, aber so leise, dass die Oma es nicht hören kann. Dann hüpft sie durch den langen, dunklen Flur davon, nimmt sich einen Apfel aus der Schale neben der Garderobe und öffnet die Haustür.
Die brütende Hitze schlägt ihr ins Gesicht, und sie überlegt, ob sie nicht lieber gleich wieder umkehren soll.
Sie könnte sich in die kleine Kammer unter der Treppe zurückziehen, wo es angenehm kühl ist, und ein bisschen malen.
Sie könnte …
Sie stutzt und kneift die Augen zusammen. Ist das nicht Jasper Fennrichs Motorrad, dort drüben, unter den Bäumen? Natürlich weiß sie, dass sich die Leute hier im Ort komische Dinge über ihn erzählen, aber er hat ihr mal geholfen, als die Kette von ihrem Fahrrad lose war. Seither mag sie ihn, ganz egal, was die Leute sagen. Und zu ihr ist er eigentlich auch immer sehr nett.
Sie streicht sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn und geht langsam über den hellen Kiesweg, den ihre Mutter erst gestern Abend geharkt hat.
Am
Weitere Kostenlose Bücher