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Die Judas-Papiere

Die Judas-Papiere

Titel: Die Judas-Papiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schroeder
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wenigen Augenblicken die scheinbar todesmutige Jane Cameron in ihrem ähnlich freizügi gen Trikot geschnallt, und zwar ganz ordnungsgemäß mit ausge breiteten Armen und gespreizten Beinen. Auch kam aus dem Hinter grund der ihr vertraute rasende Trommelwirbel, der ihren ersten beidhändigen Messerwurf ankündigte und der mit seiner rasch an schwellenden Lautstärke die Nerven des sensationslüsternen Publi kums bis an die Grenze des Erträglichen reizen sollte. Alles war dem nach so, wie es sein sollte.
    Aber was war es dann, was sie so stark irritierte?
    Im nächsten Moment wusste sie es. Es war die Bühnenkulisse! Wo kamen auf einmal all die herbstlichen Bäume und das dichte Unter holz um sie herum her? Und was hatte der Nebel, der sie in dichten Schwaden umwogte, hier auf der Bühne zu suchen? Oder war es viel leicht Rauch? Nein, es handelte sich wahrhaftig um Nebel, denn es lag keinerlei Geruch von Feuer oder Schwelbrand in der Luft.
    Da! Der Trommelwirbel brach jäh ab!
    Atemlose Stille folgte, in der nur noch das leise Sirren des schwin genden Drahtseils unter ihren Füßen zu hören war. Damit war der Moment in ihrem Programm gekommen, in dem sie die ersten bei den Messer aus dem mit glitzernden Pailetten besetzten Hüftgürtel ziehen und auf die sich plötzlich immer schneller drehende Scheibe mit Jane Cameron schleudern musste.
    Tu es nicht! Brich die Vorstellung ab!, schrie eine Stimme in ihr. Du wirst sie töten, wenn du auf dem Seil bleibst und zu den Messern greifst!
    Worauf eine andere kalte Stimme höhnisch erwiderte: Mach dich nicht lächerlich, Harriet Chamberlain! Willst du ewig das kleine will fährige Mädchen bleiben, das sich die Verfehlungen anderer stets als eigene Schuld zurechnet? Also, was ist? Was willst du sein, Amboss oder Hammer?
    Reflexartig fuhren ihre Hände hinunter zu den Wurfmessern, ris sen sie aus dem ledernen Futteral des Gürtels und schleuderten sie aus der Schwingung heraus auf die rotierende, brennende Scheibe.
    Die Klingen bohrten sich jedoch nicht wie gewöhnlich mit dump fem Laut rechts und links von Jane Camerons Taille in das Holz der Scheibe. Es donnerte vielmehr wie ein gewaltiger Schuss, als die Messer in ihr Ziel trafen – und die Scheibe samt der dort festge schnallten Person in Stücke rissen. Beide verwandelten sich in einen Regen brennender Trümmerstücke.
    Im selben Moment traf Harriet Chamberlain ein schwerer Gegen stand wuchtig vor die Brust und schleuderte sie rückwärts vom Seil in den Nebel. Der Sturz durch die Nebelschwaden wollte kein Ende nehmen. Dann schlug sie hart auf dem Boden auf.
    Augenblicklich wich der Nebel um sie herum zurück. Und sie starr te in das entstellte Gesicht eines Toten, dessen Oberkiefer zertrüm mert war und dem ein Gutteil des Hinterkopfes fehlte.
    Gellend schrie sie auf.
    Und mit diesem Schrei flüchtete sich Harriet Chamberlain aus dem fürchterlichen Albtraum und zwang sich zu jähem Erwachen. Ruckar tig setzte sie sich in der Koje des plumpen Hausbootes auf, das kurz hinter der Tower Bridge am rechten Ufer der Themse vertäut lag und unter Artisten mit bescheidener Gage als preiswerte Adresse bei Gastspielen in London gehandelt wurde.
    Ihr Atem jagte, kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn und sie brauchte einen Moment, um zu sich zu finden und die entsetzlichen Traumbilder abzuschütteln.
    Durch die Bullaugen ihrer kleinen Kajüte fiel helles Tageslicht. Es musste mitten am Tag sein. Was sie nicht im Mindesten überraschte. Nach der Premierenvorstellung am vergangenen Abend, die mit ih rem einundzwanzigsten Geburtstag zusammengefallen und ein vol ler Erfolg gewesen war, hatte sie mit den anderen aus ihrer Vaude villetruppe noch lange gefeiert und erst bei Anbruch der Morgen dämmerung Schlaf finden können.
    Harriet Chamberlain schwang die Beine über den Rand der Koje. Dabei stieß sie den kleinen Beistelltisch mit dem chinesischen Lack tablett um, das auf schwarzem Grund einen feuerroten Drachen zeigte. Mit dem Tablett polterten auch ein silbernes Pillendöschen und ein fast leeres Fläschchen Laudanum auf die Planken.
    Harriet Chamberlain biss sich auf die Lippen, als die Erinnerung da ran zurückkehrte, womit sie sich im Morgengrauen betäubt und den Schlaf herbeigezwungen hatte. Hastig bückte sie sich nach dem Lau danumfläschchen und der Silberdose.
    Dabei fiel ihr Blick auf den Briefumschlag, den jemand durch den Schlitz unter ihrer Kabinentür geschoben hatte. Augenblicklich ließ sie beides achtlos liegen,

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