Die Judas-Papiere
hob den Brief auf, trat mit ihm an das offen stehende Bullauge und riss den Umschlag auf.
Harriet Chamberlain begann, wie Espenlaub zu zittern, als ihr aus dem gefalteten Briefbogen ein vergilbter Zeitungsartikel in die Hän de flatterte. Ein Artikel, von dem sie auch nach so vielen Jahren noch jedes Wort auswendig kannte.
Bleich wie ein Leichentuch stand sie am Bullauge im grauen Licht des Tages, während von jenseits des Flusses aus dem Uhrturm von Big Ben drei klare Glockenschläge kamen.
Zweiter Teil
Pembroke Manor
1
D er frische Wind, der von der nahen Küste kam und das Salz der See mit sich trug, riss das herbstliche Laub von den Bäumen und Sträu chern der Grafschaft Kent und wehte es vor sich her. Auch in West onhangar fegte der Wind zahllose Äste kahl und scheuchte das ver dörrte Blattwerk raschelnd über den Vorplatz der bescheidenen Bahnstation. Und als sich der Nachmittagszug aus London unter dem stoßhaften Keuchen seines Dampfkessels näherte, fiel der Wind lust voll über seine lange grauschwarze Rauchfahne her. Er zerriss den schmutzigen Schleier, den der Schornstein der Lokomotive hinter sich herzog, und umwirbelte die Waggons hinter dem Kohlentender mit rußigen Rauchwolken.
Byron senkte den Kopf zum Schutz vor den Rauchschwaden, als er mit seiner ledernen Reisetasche aus dem Waggon der ersten Klasse stieg, und beeilte sich, möglichst rasch vom zugigen Perron der klei nen Bahnstation zu kommen. Den anderen Fahrgästen, die ebenfalls hier in Westonhangar ausstiegen, schenkte er keine Beachtung. Fes ten Schrittes hielt er auf den Ausgang zu, wo Lord Pembrokes Kut sche schon auf ihn warten musste.
Byron Bourke trug, dem Wetter sowie der gesellschaftlichen Stellung seines Gastgebers gemäß, über seinem taubengrauen Cutaway und den grau-schwarz gestreiften, röhrenförmigen Hosen einen dunkelgrauen Tuchmantel mit Pelzkragen. Seine Füße steckten in schwarzen, blank polierten Stiefeletten, die vorn spitz zuliefen, und auf seinem Kopf saß eine steife schwarze Melone. Feine Lederhandschuhe und ein Spazierstock mit versilbertem Knauf vervollständigten seine Aufmachung.
Zwar wusste er, dass der Cutaway mittlerweile aus der Mode ge kommen war und nur noch wenige diesen Gehrock mit den vorn ab geschnittenen Schößen trugen. Er hielt diese Kleidung jedoch noch immer für die einzig passende Garderobe, die ein Gentleman zu ei nem derartigen Besuch tragen konnte. Und er dachte nicht daran, wie ein Dandy den Launen der Mode zu folgen. Sein einziges Zuge ständnis an den neuen Stil der Zeit war, dass er auf den formellen Zy linder verzichtet und zur Melone gegriffen hatte.
Auf dem sandigen Vorplatz direkt vor der Bahnstation drängten sich mehrere örtliche Mietdroschken, zwei offene Landauer und ein einachsiges Coupé. Die herrschaftliche Equipage von Lord Pembroke wartete ein Stück oberhalb mit deutlichem Abstand zu diesen Wa gen, die sich neben dem prächtigen Gefährt Seiner Lordschaft wie räudige Klepper neben einem rassigen Rennpferd ausnahmen.
Das Gespann bestand aus vier herrlichen Rotfüchsen in funkeln dem Geschirr. Der makellose Lack der Kutsche leuchtete in einem wie Marmor schimmernden Maronenbraun. Auf dem Kutschenschlag prangte das Wappen des pembrokeschen Adelsgeschlechts. Der heraldische Schild war in vier Felder aufgeteilt, in welchen ein zinnengekrönter Turm, ein Greif sowie ein Schwert und ein Turnier helm zu erkennen waren. Hinten auf dem Trittbrett der Equipage standen zwei junge Bedienstete in rehbraunen Livrees mit goldenen Litzen und Knopfleisten. Eine nicht minder prächtige Livree trug auch der Kutscher, ein Mann von großer und breitschultriger Gestalt und mit einem ledrigen, wettergegerbten Gesicht.
»Entschuldigen Sie, Sir. Habe ich die Ehre mit Mister Byron Bourke, Sir?«, erkundigte sich der Kutscher und lüftete dabei seinen hohen Zylinder.
»Ja, die haben Sie«, bestätigte Byron.
»Sehr wohl, Sir. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise, Mister Bourke.«
Byron zuckte die Achseln. »Von einer Reise kann wohl kaum die Re de sein. Die Formulierung ›kurze Zugfahrt‹ wird der Sache eher ge recht. London ist nicht gerade einen halben Kontinent entfernt«, er widerte er trocken.
»In der Tat, Sir«, pflichtete ihm der Kutscher höflich bei und streck te nun seine behandschuhte Rechte aus. »Erlauben Sie, dass ich Ih nen Ihre Tasche abnehme, Mister Bourke. Sie ist besser hinten in der Gepäckkiste aufgehoben. Andernfalls dürfte es für Sie und die bei
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