Prinzessin auf den zweiten Blick
1. KAPITEL
Ein toter Skorpion auf dem Boden war in diesen Breitengraden nichts Ungewöhnliches und bedeutete auf keinen Fall eine Bedrohung. Doch Eleni, die gerade über den Hof ging, sah das anders.
Wie angewurzelt blieb sie stehen und starrte auf die schwarze, gekrümmte Silhouette. Entgegen aller Vernunft überfiel sie eine dunkle Vorahnung. Sicher war es ein böses Omen, das mit der bevorstehenden Ankunft des mysteriösen Gastes ihres Vaters zusammenhing. Waren die Wüsten-Legenden nicht voll von Unheil verkündenden Zeichen wie diesem?
„Eleni!“
Die Stimme ihres Vaters durchschnitt die drückende Nachmittagshitze wie ein Messer, und ihr Körper versteifte sich, während sie versuchte herauszuhören, in welcher Verfassung er sich befand. Die feste, entschlossene Stimme ließ darauf schließen, dass er zwar nüchtern, aber in gereizter Stimmung war.
Eleni fühlte, wie ihr Herz sank, denn das konnte nur eines bedeuten. Nämlich, dass er es kaum noch erwarten konnte, an den Kartentisch zu kommen, weil seine Mitspieler ebenso ungeduldig waren wie er. Lärmende, lachende Männer, die dumm genug waren, alles zu verspielen, wofür sie zuvor so hart gearbeitet hatten.
„Eleni!“ Das klang nun schon fast wie das Brüllen eines Löwen. „Wo, zur Hölle, treibst du dich herum?“
„Ich bin hier, Papa!“, rief sie zurück und kickte den toten Skorpion in ein kleines staubiges Sandgrab, das sie zuvor, direkt neben der Stallwand, mit der Stiefelspitze aufgeworfen hatte.
Dann eilte sie zum Haus hinüber, wo Gamal Lakis wartend in der offenen Tür stand. Sein zerfurchtes, von der Sonne gegerbtes Gesicht war grimmig verzogen, als er sie von oben bis unten musterte.
„Was hält dich vom Haus und von deinen Pflichten fern?“, fragte er brüsk.
Eleni wusste, dass es müßig war, ihm zu erzählen, dass sie gerade aus dem Stall kam, wo sie mit seinen geliebten Pferden gesprochen hatte, die ihre vorzügliche Verfassung und Kondition nur ihrer besonderen Pflege und Fürsorge verdankten. Dabei waren es genau diese wundervollen, preisgekrönten Tiere, weshalb Gamal Lakis als einer der am meisten beneideten Männer des Wüstenkönigreiches galt.
Aber das würde er nie zugeben, und deshalb war auch jede Erklärung in dieser Richtung überflüssig.
„Tut mir leid, Papa“, sagte sie automatisch und mit gesenktem Blick, bevor sie ihm ein entschuldigendes Lächeln schenkte. „Ich werde dir und deinen Gästen sofort Erfrischungen bringen.“
„Nein, nein. Wir können weder mit einem Drink noch mit dem vorbereiteten Essen anfangen, bevor unser Ehrengast nicht eingetroffen ist!“, wehrte er unerwartet ab. Seine trüben Augen glitzerten vor Aufregung, als er seiner Tochter mit einem durchtriebenen Lächeln zublinzelte. „Weißt du überhaupt, um wen es sich dabei handelt?“
Eleni schüttelte den Kopf. „Nein, Papa, das weiß ich nicht.“
Bereits seit Tagen machte er aus der Identität seines ominösen Gastes ein Geheimnis, doch sie wäre nie auf die Idee gekommen, ihn danach zu fragen. Frauen meldeten sich nicht einfach ungebeten. Und schon gar nicht in diesem Haushalt.
„Niemand Geringerer als der wichtigste Mann in ganz Calista!“, prahlte er großspurig. „Versuch doch mal zu raten, wer das sein könnte.“
Eleni unterdrückte ein Seufzen und stellte brav die Fragen, die er, wie sie wusste, von ihr erwartete. Dann gab sie vor, nachzudenken. Das tat sie wirklich, aber nur darüber, ob ihr überdrehter Vater tatsächlich so nüchtern war, wie sie es eben noch gehofft hatte. Eher nicht, lautete ihr Urteil. Doch gerade in diesem Fall war es besonders wichtig, mitzuspielen.
„Willst du es mir nicht verraten, damit ich mich darauf vorbereiten kann, ihm mit dem nötigen Respekt zu begegnen, wenn er unser Haus mit seiner Anwesenheit beehrt?“
Gamals dünne Lippen verzogen sich zu einem breiten, triumphierenden Grinsen. Er wirkte wie ein Spieler, der eine besonders hohe Trumpfkarte in seinem Ärmel versteckt hielt. „Was würdest du sagen, meine Tochter, wenn ich dir mitteile, dass heute Abend ein Prinz königlichen Geblüts mit uns am Tisch sitzen wird?“
Jetzt war klar, dass er doch getrunken haben musste, und zwar nicht zu knapp!
„Ein königlicher Prinz?“, echote Eleni mit ihrem schönsten Pokerface.
„Ja, in der Tat!“, bestätigte Gamal begeistert. „Prinz Kaliq Al’Farisi“, erklärte er dann pathetisch. „Der Prinz kommt in mein Haus, um mit mir Karten zu spielen!“
Er musste
Weitere Kostenlose Bücher