Die Judas-Papiere
Wachs geformte Abbild eines Menschen lag Dracula auf einem Bett aus Erde. Sein Mund stand offen, wie in To tenstarre. Schaurig ragten die schneeweißen Eckzähne aus seinem grauen Zahnfleisch hervor. Und seine Unterlippe war von getrockne tem Blut befleckt.
Van Helsing holte aus seiner Tasche die Axt und einen armlangen Pfahl, der an einem Ende spitz zugeschnitten und über dem Feuer gehärtet worden war. Beides legte er neben Draculas Sarg. Dann zog er seine Taschenuhr hervor, ließ den Deckel aufspringen und warf einen hastigen Blick auf das Zifferblatt.
»Nun machen Sie schon, van Helsing! Walten Sie Ihres Amtes!«, for derte Horatio ihn auf.
»Das werde ich auch! Aber ich habe da etwas Wichtiges verges sen!«, erwiderte der Arzt gehetzt, sprang plötzlich auf, ergriff mit der einen Hand seine Tasche und mit der anderen seine Leuchte und hastete zur Treppe. Und im Laufen rief er ihnen über die Schulter noch zu: »Ich bin gleich wieder zurück! Aber haben Sie keine Sorge, wir haben noch Zeit genug, um die Welt von diesem Blutsäufer zu er lösen!« Und damit lief er die Treppe hoch.
»Warten Sie!«, protestierte Horatio. »Was soll das? Sie können uns doch hier nicht einfach mit diesem Teufel zurücklassen!«
»Kommen Sie sofort zurück!«, brüllte nun auch Alistair und rannte ihm nach. »Wenn Sie glauben, wir erledigen für Sie das blutige Ge schäft, dann haben Sie sich aber gehörig geschnitten! Notfalls werde ich Sie eigenhändig . . .«
Alistar vermochte den Satz nicht mehr zu beenden. Denn in die sem Moment rutschte er auf einer Lage von kleinen Gesteinsbro cken aus, die sich unter einer dünnen Schicht von Erde verbarg. Wild ruderte er mit den Armen durch die Luft und stürzte dann zur Seite in den dort aufgeschütteten Haufen Erde. Dabei fuhr seine linke Hand bis zum Gelenk in das Erdreich und stieß dann auf etwas Hartes.
Alistair fluchte, als ein heftiger Schmerz durch seinen Arm schoss. Als er seinen Arm zurückzog und sich aufrappelte, ragte aus der Erde an der Stelle, wo er hingestürzt war, eine steinerne Kante hervor.
»Verdammt, hier ist noch ein Sarkophag! Er ist bloß mit Erde zugeschüttet!«, stieß er hervor und fegte mit der rechten Hand noch mehr Erde zur Seite. »Ich werde verrückt, wenn das hier das Grab des Templers ist!«
Alle vergaßen sofort den Arzt, dem sie hatten nachsetzen wollen. Die Erregung hatte sie gepackt, möglicherweise doch noch Morti mers nächsten Hinweis zu finden. Ein schneller Schwenk mit der Leuchte überzeugte sie davon, dass Alistair sich im Dunkeln nicht ge täuscht hatte.
»Wenn der tote Templer wirklich da drinliegt, ist Ihr Konto bei mir wieder ausgeglichen, Alistair!«, sagte Horatio und griff sich eine der Schaufeln. »Kommen Sie, rücken wir dem Erdhaufen zu Leibe. Jetzt zählt jeder Augenblick! Mit dem Vampir im Nacken schaufelt es sich bestimmt doppelt so flott!«
Byron schnappte sich die andere Schaufel und stach sie wie Hora tio über der Platte in die Erde, um den Berg so schnell wie möglich abzutragen.
Von oben kam wenig später das Dröhnen einer schweren, zuschla genden Tür, gefolgt von einem metallischen Geräusch und zwei, drei Sekunden danach von einem kurzen Plätschern. Und dann hörten sie auch schon eilige Stiefelschritte die Treppe herabkommen.
»Sind Sie es, van Helsing?«, rief Harriet und hielt ihre Leuchte in den Treppeneingang.
»Ja, es ist alles in Ordnung!«, rief der Arzt unter Husten zurück und eilte an ihnen vorbei in den hinteren Teil der Gruft. »Nun kann nichts mehr schiefgehen.«
»Können Sie uns mal verraten, was Sie da oben gemacht haben?«, fuhr Alistair ihn wütend an.
Bevor van Helsing antworten konnte, stieß Horatio einen triumphierenden Schrei aus und sprudelte aufgeregt hervor: »Allmächtiger, es ist tatsächlich das Templergrab! . . . Seht doch nur! . . . Das ist eindeutig der Umriss eines Ritters! . . . Und da ist auch das Tatzen kreuz! . . . Und hier steht auch eine Jahreszahl in lateinischen Lettern . . . 1307! . . . Das war doch das Jahr, in dem der Orden der Tempelritter vom französischen König hinterlistigerweise der Ketzerei bezichtigt und von ihm zerschlagen wurde, weil der Orden dem König zu mächtig geworden war und er der Ordenskasse zudem viel Geld schuldete!«
Van Helsing hatte unterdessen schon mit Fußtritten die locker auf liegenden Deckel von den drei Holzsärgen gestoßen. Nun gab er ei nen Laut grimmiger Zufriedenheit von sich und griff zu seinen ge weihten Hostien. Er
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