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Die Judas-Papiere

Die Judas-Papiere

Titel: Die Judas-Papiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schroeder
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Hüftgürtels, rollte sie die Beine hi nunter und warf sie zu den Stiefeletten. Zum Schluss legte sie auch noch den Strumpfhalter sowie den Rock, das geschnürte Oberteil ih res Kostüms und die Bluse ab, sodass sie nun nur noch ihre dünne Leibwäsche trug.
    Die Männer blickten befangen zur Seite, nur Alistair ließ sich Zeit damit.
    »Ich weiß, ich biete nicht gerade einen schicklichen Anblick«, sagte sie trocken. »Aber mit so viel Kleidung am Körper könnte ich mich nicht auf dem Vorsprung halten. Und da ich keine dünnen Akroba tenschuhe zur Verfügung habe, wie man sie auf dem Seil trägt, muss es eben mit nackten Füßen gehen.«
    »Um Himmels willen, in diesem hauchdünnen Aufzug werden Sie sich da draußen den Tod holen!«, sagte Byron und ergriff ihre Hände, als wollte er sie zurückhalten. Einerseits wusste er, dass es ihre ein zige Chance war. Doch andererseits wehrte sich alles in ihm, das zu zulassen. Zu groß war seine Angst, sie vor seinen Augen in den Tod stürzen zu sehen.
    Harriet lächelte angestrengt. »Was riskiere ich denn schon, wo uns der Tod, ja sogar ein noch entsetzlicheres Schicksal gewiss ist, wenn ich es nicht versuche, Byron?«, fragte sie leise und sah ihm mit einem schmerzlichen Ausdruck in die Augen, als fürchtete auch sie, ihn zum letzten Mal zu sehen.
    »Halten wir sie nicht länger auf!«, drängte van Helsing. »Die Sonne steht schon tief über den westlichen Bergen. Wir haben keine Zeit zu verlieren!«
    »Gott schütze dich, Harriet!«, flüsterte Byron mit zugeschnürter Kehle. Und es war ihm in diesem Augenblick das Natürlichste der Welt, auf das förmliche »Sie« zu verzichten, hatte er sich ihr doch in keinem Augenblick ihrer Bekanntschaft so nahe und verbunden ge fühlt wie in diesem Moment.
    »Und auch dich, Byron!«, erwiderte sie kaum hörbar. Dann entzog sie ihm ihre Hände mit einem energischen Ruck, wandte sich um und kletterte auf die Fensterbank. Dort schob sie sich bäuchlings über die Kante und ließ sich langsam und mit den Füßen nach dem Fries tastend abwärts gleiten. Als ihre Zehenspitzen den Vorsprung er reicht hatten, waren im Fenster nur noch ihr Kopf und ihre Schultern zu sehen.
    Ein, zwei Sekunden lang verharrte sie so, wobei sie ihre Augen ge schlossen hielt, als konzentrierten sich all ihre Sinne auf das, was vor ihr lag. Dann nahm sie ganz behutsam die Hände von der Fenster bank, führte sie seitlich ins Freie und streckte sie an der Mauerwand entlang aus, sodass ihr Körper nun die Form eines leicht zur Mauer hin gebogenen Kreuzes bildete. Wieder vergingen einige Sekunden der Reglosigkeit und Konzentration. Dann setzte sie sich in Bewe gung und glitt langsam vom Fenster weg.
    Alistair wandte sich hastig ab. »Ich kann da nicht hinsehen, sonst wird mir speiübel!«, stieß er hervor und steckte sich mit zitternder Hand eine Zigarette an. »Wenn ich zu beten wüsste, würde ich es jetzt mit voller Inbrunst tun.«
    »Es dürfte reichen, wenn das drei von uns tun«, kam es von Horatio.
    Byron sagte nichts, doch seine Lippen bewegten sich in einem stummen Bittgebet, während er sich aus dem Fenster beugte und Harriet nicht eine Sekunde aus den Augen ließ. Zwar hätte auch er sich am liebsten abgewendet, um es nicht mit ansehen zu müssen, wenn das Entsetzliche geschah. Aber diese Feigheit verbot er sich. Er war es ihr schuldig, jede Sekunde ihres mutigen Rettungsversuches nicht nur mit seinem Bittgebet, sondern auch mit seinen Augen zu verfolgen.
    Und was für ein tollkühnes Wagnis es war, das sie auf sich genom men hatte! Der eisige Wind fuhr ihr ins Haar und zerrte an ihrem Un terrock, als wollte er sie vom Mauerfries reißen und in den Abgrund schleudern, wo ihr Körper auf den Felsen zerschellen und dann in den Gebirgsfluss stürzen würde.
    Mehrmals hatte Byron den Eindruck, als zitterte und wankte ihr Körper unter den Stößen des Windes und als müsste sie gleich die Balance verlieren und rücklings ins Verderben stürzen. Jedes Mal hielt er den Atem an und der Schrei des Entsetzens saß ihm schon in der Kehle.
    Doch Harriet stürzte nicht. Auf Zehenspitzen, den Körper in einem angespannten flachen Bogen haltend, die Hände an die Burgmauer gepresst und dabei mit den Fingern nach winzigen Ritzen zwischen den Steinen tastend, so arbeitete sie sich mit wild wehendem Unter kleid Schritt um Schritt näher an den anderen Turm heran.
    Byron fror, obwohl er warm angezogen war, und vermochte sich kaum vorzustellen, wie kalt es Harriet

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