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Die Judas-Papiere

Die Judas-Papiere

Titel: Die Judas-Papiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schroeder
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Verbindung nach London her gestellt hatte. Und dass jemand vorsichtig die Hörmuschel von der Gabel nahm, mit der anderen Hand den Sprechtrichter abdeckte und dem Gespräch mit einem höhnischen Lächeln lauschte.

Fünfter Teil
    Die Stimme des Propheten

1
    A uf der Fahrt mit der Postkutsche nach Bukarest schneite es unent wegt. Dort nahm der Wintersturm noch einmal dermaßen zu, dass sie geschlagene zwei Tage in der rumänischen Hauptstadt festsa ßen. Der Zugführer des Orient-Express, der am Abend ihres Eintref fens in den Bahnhof gerollt war und gemäß seinem Fahrplan eigent lich schon nach einem zehnminütigen Aufenthalt weiterdampfen sollte, musste sich mit knirschenden Zähnen den tobenden Gewal ten der Natur beugen und warten, bis sich der Schneesturm gelegt hatte. Denn über den Telegrafen kam Stunde um Stunde dieselbe Meldung, nämlich dass zu viele Schneeverwehungen die Strecke un passierbar gemacht hatten. Räummannschaften taten ihr Bestes, um die Gleise wieder freizubekommen. Doch kaum hatten sie das eine Hindernis beseitigt, wurden sie auch schon zu einem anderen Stre ckenabschnitt gerufen, wo sich neue Schneeverwehungen aufge türmt hatten. Die Passagiere des Luxuszuges wurden zwischenzeit lich in das Boulevard Hotel einquartiert, das damit bis auf das letzte Bett belegt war.
    Endlich traf im Hotel die Meldung ein, dass der Zug seine Fahrt nach Konstantinopel fortsetzen konnte. Erleichtert, der wenig einladenden Stadt und vor allem dem strengen Winter dieser Region zu entkommen, strömte alles zum Bahnhof. Man nahm wieder dankbar Besitz von seinem noblen Abteil und spülte im Speisesalon die Bit terkeit über die vergeudeten Tage in Bukarest mit reichlich Champa gner hinunter, während der Orient-Express am frühen Abend Bukarest hinter sich ließ.
    »Wie merkwürdig«, sagte Harriet mit versonnenem Blick hinaus in die winterliche Landschaft Rumäniens. »Jetzt sitzen wir wieder in diesem königlichen Zug und alles, was wir an Entsetzlichem erst vor wenigen Tagen auf Burg Negoi erlebt haben, scheint auf einmal un endlich weit weg, als wäre das alles nur ein böser Traum gewesen.«
    »Mit dem feinen Unterschied, dass keine Wunde zurückbleibt, wenn einem bloß im Traum ein Vampir den Handrücken aufschlitzt«, erwiderte Alistair gedämpft und deutete auf seine rechte Hand, wo inzwischen eine Kruste Schorf die Degenwunde geschlossen hatte. »Und die Narbe wird mich mein Leben lang daran erinnern, dass das alles nicht nur ein Albtraum gewesen ist!«
    Horatio nickte. »Ich glaube, diese Ereignisse wird keiner von uns jemals vergessen. Ich kann es eigentlich noch immer nicht recht glauben, dass wir mit dem Leben davongekommen sind«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Da soll jemand noch mal sagen, es gäbe keine Wunder!«
    Alistair grinste. »Wunder? Na, ich würde es eher das Glück des Tüchtigen nennen, der zur rechten Zeit am rechten Ort ist und seine Chance zu nutzen weiß. Jedenfalls sehe ich in unserer wundersamen Errettung keinen Gottesbeweis, falls du darauf anspielen wolltest.«
    Byron bedachte ihn mit einem Blick milden Spottes und sagte: »Ein viel klügerer Kopf, als ich es jemals sein werde, hat mal gesagt: Der Skeptiker ist ein Philosoph, der keine Zeit hatte, Christ zu werden. Da scheint mir einiges dran zu sein.«
    »Ich bin weder Skeptiker noch Philosoph«, entgegnete Alistair gut gelaunt, »sondern nüchterner Realist, der es mit der Vernunft und mit Nietzsche hält.«
    »Du glaubst also allein an die natürliche Auslese und das Recht des Stärkeren«, sagte Harriet.
    Alistair nickte, leerte sein Glas und bedeutete einem Kellner, es wieder aufzufüllen. »So ist es, meine Liebe. In dieser Welt wird ei nem nichts geschenkt. Wer es zu etwas bringen will, muss sich durchsetzen, Ellenbogen zeigen und sich nehmen, was er haben will. Wenn ich in meinem Leben etwas gelernt habe, dann das! Ich habe ja nicht viel von dem klassischen Zeug beigebracht bekommen, was in so hehren Stätten der Bildung wie Oxford gelehrt wird. Aber irgend wo habe ich mal einen Satz von diesem deutschen oder österreichi schen Dichter Schiller aufgeschnappt, der in seinem Wilhelm Tell oder Werther eine seiner Figuren sagen lässt: In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne! Und genau so sehe ich es auch!«
    »Das Zitat stammt aus seinem Stück Wallenstein«, warf Byron ein. »Und während der Tell in der Tat auch von Schiller geschrieben wur de, war es Goethe, aus dessen Feder der Werther stammt. Und beide

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