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Die Judas-Papiere

Die Judas-Papiere

Titel: Die Judas-Papiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schroeder
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nahm sie so dankbar hin wie die Hiebe auf den nackten Rücken, die er sich selbst zufügte, und zwar mit einer kurzstieligen Geißel, in deren Lederschnüre Dutzen de von kleinen Eisenhäkchen eingebunden waren. Die Welt war durch und durch ein Ort des Verderbens und der Leib gehörte abge tötet und alles in ihm an törichtem menschlichem Verlangen ausge trieben. Nur so führte der Weg zur wahren Erkenntnis und zum Licht der Sterne.
    Vor dem Perfectus stand zwischen den beiden Kerzen ein unter armhohes Gebilde aus schwarz angestrichenem Eisen, das im Halb dunkel der Kammer auf den ersten Blick einem Tischkruzifix ähnelte. Doch wo bei diesem sich die beiden Balken kreuzten, an die Jesus genagelt worden war, ragte ein Baumstumpf auf, aus dem im oberen Drittel rechts und links jeweils ein dickes kurzes Aststück hervortrat. Anstelle eines Korpus, der sich auf jedem Kruzifix fand, hing dort ein an den Beinen aufgehängter Mann vom Baum herab. Um den Kopf trug er eine Art von Siegerkranz aus Münzen. Und das Gesicht des umgekehrt Gehängten zeigte weder Qual noch Todesschmerz, son dern einen spöttischen Ausdruck, als würde er seine Henker ausla chen.
    Vor diesem Eisenbaum mit dem kopfüber herabbaumelnden Mann lag aufgeschlagen das dünne, in schwarzes Leder gebundene Buch mit dem goldgeprägten M auf seinem Deckel. Eine lange Litanei von Anrufungen und Beschwörungen bedeckte in zentrierten Kolonnen und in weißen Drucklettern die beiden aufgeschlagenen Seiten aus schwarzem Papier.
    Graham Baynard konnte die seitenlange Litanei schon seit vielen Jahren auswendig herunterbeten. Aber es war dennoch gut, sie bei der Geißelung vor Augen zu haben. Insbesondere wenn mancher Schlag ihm einen feurigen Schmerz durch den Körper jagte und ihn wanken ließ. Dann konnte es passieren, dass er für einen kurzen Moment aus dem Rhythmus und der vertrauten Abfolge kam.
    In dieser Litanei wechselten sich Seligpreisungen mit persönlichen Anrufen ab, die Mitglieder des Ordens »heilsreiche Verfluchungen« nannten. Diesem Wechsel folgte sein Oberkörper mit leichten Pen delbewegungen. Bei jedem Geißelschlag auf den Rücken, der jede »heilsreiche Verfluchung« begleitete, fuhr er in Erwartung des ein setzenden Schmerzes ein wenig nach hinten. Bei jeder darauf fol genden Seligpreisung kehrte sein Oberkörper wieder nach vorn zu rück.
    »Stirb, Welt aus Tand und Trug!«, kam es mit Inbrunst von seinen Lip pen, während die Geißel über seine linke Schulter flog und sich die Eisenhäkchen in seine Haut bohrten.
    »Selig bist du, Judas, du einzig Erleuchteter!«
    Der Körper des Perfectus beugte sich wieder nach vorn.
    »Stirb, rottendes Fleisch!«
    Die Geißel klatschte auf seinen Rücken und ließ Blut aus den feinen Wunden sickern.
    »Selig bist du, Kain, du Krone der Erhabenheit und Stern der Verlorenen!«
    Ein kurzer Moment der Ruhepause.
    »Stirb, verderbtes Verlangen!«
    Ein besonders harter Schlag ließ die vernarbte Haut aufreißen und ein Zittern ging durch Graham Baynards Körper. Sofort schämte er sich seiner Schwäche.
    »Selig bist du, Esau, du Sieger über den Demiurgen!«
    Ein schneller, tiefer Atemzug, dann hob er wieder die Geißel.
    »Stirb, trügerische Freude und du verworfene Lebenslust!«
    Der Körper schwankte weit nach vorn.
    » Selig bist du, Korach, du Trost der Irrenden! «
    Ein kurzer Seufzer und wieder flog die Geißel auf den blutigen Rü cken. »Stirb, törichte Hoffnung, du heimtückisches Gift des Demiurgen!«
    Graham Baynard hatte erst knapp die Hälfte der Litanei »mit der Geißel gebetet«, wie es im Orden hieß, als er Stiefelschritte auf der Stiege zu seiner Kammer wahrnahm. Das konnte nur Anton Tenkrad sein. Denn allein er besaß einen Schlüssel für die Tür, hinter der die Stiege zu seiner Dachstube hinaufführte. Er musste wichtige Nach richten bringen, sonst hätte er es nicht gewagt, zu dieser Stunde zu ihm aufzusteigen.
    Das Wissen, dass er seine Selbstgeißelung abbrechen musste, weckte in ihm gegen seinen Willen ein Gefühl der Erleichterung. So wie er sich dessen bewusst wurde, schwang er die Geißel hoch, ob wohl in der Abfolge der Litanei jetzt eigentlich die Seligpreisung der Sodomiter an der Reihe gewesen wäre, und bestrafte sich für den kurzen Moment der Schwäche mit einem wütenden Schlag, der ihm vor Schmerz die Tränen in die Augen schießen ließ. Recht geschah es ihm! Auf eine Unterbrechung im Gebet mit Erleichterung zu reagie ren, war eines Ordensoberen unwürdig!
    Seine

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